Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
der katholischen Nonnenschule erhielt und das Apolonia schon mit sieben Jahren geschmacklos gefunden hatte.
»Einen Zufall kann man es nicht unbedingt nennen, dass ich zu Hause bin«, erwiderte sie.
»Zu Hause, ach ja! Ich hatte fast vergessen, dass du jetzt hier wohnst.«
Apolonia ballte die Fäuste beim genüsslichen Klang dieser Worte. »Guten Abend, Muriella.«
»Apolonia.« Sie küssten sich zweimal auf die Wange und musterten sich danach wieder mit kühlen Blicken.
» Oh - was trägst du nur für ein schönes Kleid«, bemerkte Muriella und nutzte die Gelegenheit, sie von oben bis unten zu mustern. »Du hast dich tatsächlich von deinen geliebten …
wie soll ich sie nennen - Erdfarben? - getrennt. Man erkennt dich kaum wieder.«
Apolonia lächelte süß. »Nun, dein Erscheinen ist unabänderlich, egal was du trägst.«
Muriellas Lippen wurden spitz. »Ich habe gehört, dass du nun eine öffentliche Schule besuchst.« Ihre kleinen schwarzen Augen blitzten - sie wusste genau, dass Apolonia von der Schule geworfen worden war.
»Offenbar bist du falsch informiert. Ich genieße inzwischen exzellenten Privatunterricht.«
Träge hob Muriella ihre Augenbrauen. »So? Dann kannst du ja gar nicht mehr anderen ins Wort fallen und sie verbessern, wie du es doch früher so gerne getan hast.«
»Gott sei Dank bleibt mir das nun erspart, in der Tat. Professor Doktor Klöppel ist ein ausgezeichneter Lehrer von internationalem Rang.« Sie räusperte sich. Es war höchste Zeit für einen Gegenangriff, und zwar an einem Ort, der Apolonia bessere Möglichkeiten bot, Muriella bloßzustellen. »Wollen wir nicht hinüber zum Büfett? Meine Tante hat Delikatessen anrichten lassen, die du bestimmt noch nie gekostet hast …«
Gemeinsam schritten sie durch die Menge, begrüßten hier und da jemanden, tauschten flüchtige Wangenküsse und leere Worte. Inzwischen hatte sich das Tanzparkett mit Paaren gefüllt. Das Orchester auf der kleinen Empore spielte einen schnellen Walzer, zu dem sich mehrere Dutzend lackierte und diamantbesetzte Schuhe bewegten. Einige Gäste hatten sich bereits an den langen Tischen niedergelassen, in Erwartung des Abendessens, doch die meisten standen in großen Gruppen beisammen und nippten an den Champagnergläsern, die die Diener unaufhörlich nachfüllten. Auf dem Büfettisch waren Kaviar-, Lachs und Schinkenhäppchen sowie Eclairs und Pralinen auf einem Meer von Kristallschalen und Silbertabletts angerichtet, in dessen Mitte die Festtagstorte thronte,
achtstöckig, mit faustgroßen Sahnehauben, Karamellkirschen und einem Hochzeitspaar aus Marzipan. Die Braut trug eine winzige Nachbildung von Neveras Kleid.
Apolonia nahm sich ein Häppchen mit Preiselbeercreme und wandte sich zu Muriella um. Ihre ehemalige Klassenkameradin inspizierte die Speisen wie eine Leiche auf einem Seziertisch. Dann entschied sie sich für ein Schokoladeneclair und biss hinein.
»Hm. Oh. Schmeckt … alt.«
»Wir haben die Eclairs von einer Pariser Bäckerei liefern lassen. Was du gerade kostest, ist eine Spezialität mit besonders hohem Kakaogehalt. Wundere dich also nicht über die herbe Bitterkeit.« Apolonia nahm zufrieden einen kleinen Bissen von ihrem Preiselbeerhäppchen. »Übrigens wollte ich dich fragen, was die Ausbildung macht. Hat sich etwas bei den Nonnen geändert? Oder dreht sich immer noch alles um lateinische Kriegsberichte?«
Ohne auf Apolonias Stichelei einzugehen, blickte Muriella in die Menge und setzte ein Lächeln auf, das, wie Apolonia bemerkte, ausnahmsweise nicht unecht war: Es entblößte Muriellas Zahnfleisch.
»Valentin!« Sie streckte den Arm aus und schlang ihn um den Arm eines jungen Mannes, der dasselbe Pferdegesicht hatte wie sie. »Apolonia, du erinnerst dich bestimmt an meinen Bruder Valentin?«
Der Ausdruck des jungen Mannes übertraf sogar Muriellas an Leblosigkeit und Langeweile.
»Wie könnte ich dieses Gesicht vergessen?« Apolonia reichte ihm die Hand.
»Valentin, das ist Apolonia Spiegelgold«, erklärte Muriella.
»Erfreut«, näselte er und hob ihre Hand flüchtig an die Lippen. Dann reckte er sich wieder und spähte in alle Richtungen.
»Valentin macht in drei Monaten sein Staatsexamen. Danach wird er Anwalt in der Kanzlei meines Vaters«, sagte Muriella. »Vater würde gerne sehen, dass er als verheirateter Mann in den Beruf eingeht, darum ist Valentin gerade auf der Suche. Aber es kommen nur die infrage, die Mutter und ich auswählen, nicht wahr, Valentin?«
»Wenn
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