Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
beigemessen, aber immerhin schenkten ihr die Anwesenden anerkennende Blicke. Jonathan Morbus runzelte kaum merklich die Stirn. »Verzeihung, darf ich fragen, wie alt du bist?«
»Einundzwanzig«, erwiderte Apolonia. »In fünf Jahren. Das erste Lebensjahr im Mutterleib mitgezählt.«
Einige lachten. Auch Morbus verzog die Lippen zu einem Lächeln. »In der Tat, du bist Magdalenas Tochter. Offenbar hast du nicht nur ihre Augen, sondern auch ihren Charme.«
Charme - sie? Fast hätte Apolonia gelächelt. Dabei machte ihr Herz einen Hüpfer.
»Ist das nicht verrückt?«, schaltete sich Nevera wieder ein und machte einen Schmollmund, um die Aufmerksamkeit endlich wieder auf sich zu ziehen. »So vieles ist vor genau acht Jahren geschehen, Glücksfälle wie unsägliche Katastrophen. Es war in der Tat ein schicksalhaftes Jahr. Meine arme Schwester Magdalena wurde in der Blüte ihres Lebens aus dem Kreis ihrer Lieben gerissen. Dann gab es den Putschversuch des TBK, der uns fast die gelobte Demokratie gekostet hätte. Glücklicherweise waren diese düsteren Tage aber auch nicht ohne Sonnenstrahlen, wie den Aufstieg meines lieben Elias, wohl verdient, weil er dafür gesorgt hat, dass diese furchtbaren Terroristen ihre rechtmäßige Strafe erhalten, und unsere bescheidene Hochzeit. Nicht zu vergessen das Debüt von Ihnen, Jonathan: vor acht Jahren hatten Sie Ihre erste Romanveröffentlichung, nicht wahr?«
Morbus lächelte wie geölt. »Angesichts der anderen Ereignisse, die dieses Jahr geprägt haben, ist das wohl kaum erwähnenswert.«
»Die Bescheidenheit steht Ihnen gut, Herr Morbus«, schaltete sich eine rundliche junge Dame ein, die nervös mit ihrem Fächer wedelte und Morbus schmachtend ansah. »Doch ich erlaube mir zu behaupten, dass Sie falschliegen. Ihr Debüt war ein Ereignis, das sich mit allen Putschversuchen, Revolutionen und Schicksalsschlägen in der Geschichte messen kann. Das Erscheinen Ihres ersten Romans, Der Junge Marinus , markiert den Beginn einer neuen Ära in der Literatur! Ich habe Der Junge Marinus wieder und wieder gelesen, und jedes Mal hat es mich erneut in seinen Bann gezogen und zu Tränen gerührt. Sie - Sie sind ein Genie …«
Der Schriftsteller ergriff sachte die Hand der jungen Dame. »Sie bringen mich in Verlegenheit, Agnes.«
Agnes schien auf dem Fleck zu einer Pfütze heißer Butter zu schmelzen und starrte Morbus aus glitzernden Augen an, bis Apolonia beschloss, ihren magischen Moment zu beenden: »Um was geht es in Der Junge Marinus , wenn ich fragen darf?«
Morbus ließ die Hand der jungen Dame wie einen leblosen Fisch aus seiner gleiten und lächelte Apolonia freundlich an. »Nichts würde ich dir lieber erzählen, doch ein Buch in wenige Worte zu fassen, ist so, als müsste man die gesamte Anatomie eines Menschen von den Zehenknochen bis zu den Gehirnwindungen in einem Satz erklären. Aber ich schicke dir gerne ein Exemplar vom Jungen Marinus , wenn du die Geschichte lesen möchtest.«
»Oh - schon neun Uhr!«, rief Nevera in einem neuerlichen Versuch, das Interesse der Anwesenden auf sich zu lenken. »Das Abendessen müsste bald aufgetragen werden. Wollen wir uns setzen?«
Morbus bot ihr seinen Arm, dann nickte er Apolonia noch einmal zu und lächelte. Apolonia spürte merkwürdigerweise nicht, mit welchem Gesichtsausdruck sie seinen erwiderte, doch sie hatte das fahle Gefühl, einen ziemlich belämmerten Eindruck zu machen. Dann hatte Morbus sich abgewandt und Nevera schritt wie eine schnurrende Katze mit ihm zu Tisch.
Apolonia hatte selten so üppig gegessen. Nach sieben Gängen und einem Tortenstück hatte sie das Gefühl, aus ihrem Kleid zu quellen wie ein Schinken. Dass sie den Tod der dreiundfünfzig Hummer vereitelt hatte, schien niemanden zu stören: Es gab genug Speisen, um eine Armee satt zu bekommen. Als die ersten unermüdlichen Tänzer sich wieder erhoben und die Tanzfläche füllten, beschloss Apolonia, das Weite zu suchen. Sie blickte noch einmal zu den Tischen zurück, bevor sie die Wendeltreppe emporstieg. Ihre Tante saß mit Jonathan Morbus und drei weiteren Männern zusammen und scherzte ausgelassen. Ihr Onkel war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich bereits in einen der Salons zurückgezogen, um mit seinen Partnern und Kollegen zu plaudern.
Apolonia stieg die Stufen hinauf und bog rechts in den Korridor ein. Der fröhliche Lärm des Festes wurde von Schritt zu Schritt verschwommener. Sie ging eine zweite Treppe am Ende des Korridors
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