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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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leicht freuten sie sich über wertlose Dinge! Die verliebten Mädchen, die auf der Straße kicherten, und die Jungen auf den Schulhöfen, die sich über eine gewonnene Prügelei freuten, sie alle kamen Vampa so simpel vor. Fühlten sie dies, waren sie glücklich, fühlten sie das, waren sie betrübt, so wie ein Kind, das beim Schokoladeessen lacht und beim Grünkohl weint, nicht aber entscheiden kann, was ihm vorgesetzt wird.
    Vampa beobachtete das Leben der Menschen und verachtete sie. Er verachtete ihr kümmerliches Glück, ihren zerbrechlichen Stolz, ihre aufgeblähte Liebe. Wie waren sie alle schmutzig und jämmerlich und wie bedeutungslos war all ihr Tun und Fühlen! Vampa sah die Männer in Eck Jargo kommen und gehen, feiern und flüchten, leben und sterben. Wie Barbaren ermordeten und erschlugen sie sich oder wurden
von der Polizei geschnappt. Früher oder später waren sie alle verloren.
    Nur Vampa nicht. Er kam und ging und kam wieder, und während alle rings um ihn dem Tod entgegenrannten, tanzend, torkelnd oder schleichend - während alles voranströmte wie ein Fluss auf sicherem Weg zur Klippe, war Vampa stehen geblieben. Er war ein Stein im Flussbett, zu tot, um sich zu bewegen, und dabei würde er nie über die Klippen des Todes schreiten. Man konnte nicht sterben, ohne am Leben zu sein - die Ironie war so grausam! Und obwohl Vampa in jeder Minute Ekel vor dem bedeutungslosen Vorantaumeln der Menschen empfand, sehnte er sich nur danach, wie sie zu sein.
    Könnte er doch so einfach lieben, wie sie es taten! Könnte er doch so leicht fürchten wie die Kinder den Schatten, die Erwachsenen die Geldnot! Könnte er doch traurig sein, seine Traurigkeit mit Opium betäuben, aus den schläfrigen Träumen des Giftes erwachen und als friedliches, ruhiges Wrack dem Tod entgegengleiten!
    Aber Vampa war nicht wie sie. Alle Menschlichkeit war aus ihm herausgerissen worden und allein die Hülle seines Körpers zurück ins Leben geworfen - und nicht einmal die war mehr wirklich und menschlich genug, um zu welken. Vampa, der wirkliche Vampa, schlief nicht unter den Kanalrohren am Fluss. Er boxte nicht in Eck Jargo und schlich nicht mit durchschnittener Kehle durch die Stadt. Er war in einem Buch gefangen und alles andere von ihm war nichts als der Schatten einer Buchfigur.
     
    Was Vampa in den vergangenen neun Jahren erlebt hatte, war nicht wenig gewesen, doch nichts davon war von Bedeutung oder konnte sein Herz berühren.
    Nur an einen Tag dachte er oft zurück. Vor drei Jahren hatte er beschlossen, die beiden Blutbücher, die er gefunden
hatte, zu verbrennen. Der Trost, den sie ihm beim Lesen spendeten, schien ihn zu verhöhnen; sie gaukelten ihm eine Identität und Gefühle vor, die zerfielen, sobald er seine Augen von der Schrift löste. Kurzerhand warf er die Bücher ans Flussufer und zündete sie an. Der kühle Novemberwind wirbelte die Ascheflocken in alle Richtungen, und während Vampa dort stand und den Rauch einatmete, fragte er sich, ob er die Menschen in den Blutbüchern umgebracht hatte.
    Als nicht mehr als verkohlte Papier- und Lederfetzen übrig geblieben waren, vergrub er die Hände in den Taschen und strich ziellos durch die Stadt, vorbei an den Kutschen und Passanten. Dann kam er zu einer kleinen Kirche. Eine Weile betrachtete er die bunten Glasfenster und die hohe Holztür mit den Eisenbeschlägen. Aus irgendeinem Grund kam die Kirche ihm bekannt vor. Als hätte er schon einmal von ihr gelesen. Schließlich trat er ein.
    Es war dunkel und kalt. Mattes Licht fiel durch die Fenster und malte bunte Mosaike auf die Gebetsbänke. Am Altar brannten Kerzen. Eine Jesusfigur aus Wachs hing an einem Kreuz. Seine Augen waren unendlich traurig auf Vampa gerichtet. Vampa hatte plötzlich das erschreckend starke Gefühl, dass dieser Jesus genau dasselbe Schicksal hatte wie er. Vampa setzte sich in die erste Reihe und erwiderte den Blick der Wachsfigur. Sein Atem gefror in der kalten Luft zu Nebelwölkchen.
    Der Jesus am Kreuz beobachtete ihn wissend. Verständnisvoll. Erging es ihm nicht wie Vampa? Hing nicht auch er an dem Kreuz, um zu sterben, und konnte es doch nicht? Er würde in alle Ewigkeit an Kreuzen hängen, solange die Menschen seiner gedachten. Er würde in ihren Erinnerungen nie ganz tot sein.
    Vampa zog die Nase hoch. Wüsste er doch mehr über Religion! Vielleicht lag dort die Antwort auf seine Fragen? Er
sprang beinahe auf die Füße, gepackt von einer Idee, und lief die Stufen zum Altar hinauf. Eine

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