Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
ändern sich nicht! Hast du vergessen, was die Eltern derer getan haben, die du so tolerant nennst? Glaubst du, die ganze Menschheit erneuert ihre Natur innerhalb von ein paar Jahrzehnten? Sei nicht so dumm!«
»Du kannst doch nicht alle Menschen bevormunden. Sie haben das Recht auf unsere Ehrlichkeit!«
»Das Recht? Das Recht?! Niemand hat auf dieser Welt irgendein Recht außer dem Recht auf seine Selbstsucht. Ich sage dir, was sie mit deiner Ehrlichkeit machen werden, schöne, einfältige Magdalena! Sie werden dich verspotten! In ihre Irrenhäuser werden sie dich schicken, und wenn du deine herrliche Ehrlichkeit beweist, dann wird man dich ausstellen
und studieren wie ein wildes Tier! Was für eine Entdeckung wirst du sein! Eine Besessene! Eine Hexe! Du wirst von Zirkus zu Zirkus gereicht und landest auf dem Untersuchungstisch von Ärzten, die dir Elektrizität durch den Körper jagen. Das ist das Recht, das die Menschen sich nehmen werden.«
»Ich habe Vertrauen in das Gute. An diesem Vertrauen kannst du nicht rütteln.«
»Nun verstehe ich. Du verlogenes Ding! Es geht dir nicht um die Wahrheit und Ehrlichkeit, so dumm bist nicht einmal du. Ich hätte es wissen müssen - du sehnst dich nur nach noch mehr Bewunderung und Ruhm und - und Macht! Dein blasses Elfenlächeln, das ist dir nicht genug, nicht wahr? Du willst, dass alle dir zu Füßen liegen! Aber das werde ich verhindern, Magdalena. Ich verhindere es.«
»Du bist von Hass und Neid zerfressen. Aber anstecken kannst du mich mit deinem Übel nicht! Ich habe meine Entscheidung getroffen.«
»Und ich die meine, darauf kannst du dich verlassen …«
Ich versteckte mich hinter den Fenstergardinen, als die Unbekannte das Schlafzimmer meiner Mutter verließ. Sie trug einen langen, dunklen Mantel, und ich sah weder ihr Gesicht noch ihre Haare oder ein anderes Merkmal, an dem ich sie hätte wiedererkennen können.
Als die Haustür ins Schloss fiel, schlich ich ins Zimmer meiner Mutter. Sie saß auf der Bettkante. Als sie mich bemerkte, lächelte sie müde und streckte sich auf dem Bett aus.
»Wer war das?«, fragte ich.
Magdalena schloss die Augen. »Unwichtig.« Sie klang erschöpft. Ich legte mich neben sie. Bald ging ihr Atem tief und sehr langsam. Ich versuchte, ihn zu imitieren, aber sie atmete wirklich viel zu langsam.
»Wanderst du wieder?«, flüsterte ich.
Meine Mutter nickte schwach. »Nur einen Augenblick …
ich muss es nur kurz … ich muss nur sehen, wo sich meine Feinde treffen …«
Ich lag still und reglos neben ihr, bis ich einschlief.
Am Morgen war der Regen versiegt. Grau und leer füllte der Himmel alle Fenster aus. Meine Mutter lag noch genauso neben mir wie in der Nacht. Ihre Hände waren kalt, und über ihrem Gesicht hing ein merkwürdiger Schein, wie ein Tuch aus Nebel, das ihre Züge bleicher wirken ließ. Nur ihr Atem ging noch so tief, so langsam, so versunken.
Ich versuchte, sie zu wecken. Sie wachte nicht auf.
Mein Vater kam, als ich ihn rief. Er ergriff sie an den Armen, aber als er sie hob, war ihr Körper steif. Sie wachte nicht auf. Sie würde nie wieder erwachen. Vater und ich wussten es.
Zwei Wochen lang schlief meine Mutter einen Schlaf, der tiefer ist und unergründlicher als jeder Traum. Ihr Körper lebte noch, aber ihr Geist fand keinen Weg mehr in ihn zurück. Jemand hielt sie gefangen und Vater und ich waren hilflos. Wir konnten nichts tun, wir konnten nur neben ihrem leeren Körper sitzen und warten, dass er seinen letzten Atemzug tat. Kein Arzt konnte ihr helfen. Wir hatten es auch nicht erwartet.
Nach zwei Wochen war der letzte Lebensfunke in Magdalenas Körper erloschen.
Vater veränderte sich sehr. Wir sprachen nie über Mutters Tod, aber wir wussten beide, wieso sie gestorben war. Für was. Wer schuld daran war.
Vater zerstörte alles, was ihr gehört hatte: die Silberpfeifen, die schwebenden Teppiche, die Runenkarten, die magischen Steine, die Amulette. Er verschloss die Salons, in denen meine Mutter einst wandelte, entließ all ihre Dienstmädchen, und er zog sich zurück; zurück von der Welt, zurück von mir.
Apolonia klappte das Tagebuch zu. Eine Weile blieb sie reglos sitzen. Draußen dämmerte es. Leise prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben, wie zarte Marderkrallen klang es, die gegen das Glas klackerten. Apolonia stand auf und nahm ihre Geige zur Hand. Wenn sie früher eine Pause während ihrer Lehrstunden gemacht hatte, war sie Geige spielen gegangen. Es hatte etwas
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