Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
kannte. Sie eilte los, und als sie wiederkam und das
Silbertablett neben die Fensterbank stellte, entdeckte Apolonia neben ihrem Tee drei Nussplätzchen.
Fast pausenlos musste Apolonia an den Lieferjungen denken. Mehr, als dass er für jemanden namens Mone Flamm arbeitete, wusste sie nicht. Aber wer war überhaupt Mone Flamm? Höchstwahrscheinlich hatte er ihrem Onkel etwas gebracht, das er für einen Gerichtsprozess brauchte - das Paket hätte Apolonia nur mittelmäßig interessiert, wäre da nicht das Fenster gewesen.
Das Fenster. Es war verschlossen gewesen, bevor der Junge hinausgesprungen war, darauf hätte Apolonia ihre rechte Hirnhälfte verwettet. Wie war es also aufgegangen? Es gab nur eine Erklärung, aber die war unwahrscheinlich, fast unmöglich … Wenn es wirklich so war, verstand Apolonia nicht, was ihr Onkel damit zu tun hatte. War es Zufall? Oder wusste Elias Spiegelgold, mit welchen Leuten er heimliche Geschäfte machte?
Apolonia grübelte und grübelte, verdächtigte Elias sogar und verwarf all ihre Ideen wieder. Was sie in ihren Büchern nachlesen konnte, lieferte keine konkreten Antworten, sondern wies nur auf noch mehr Möglichkeiten hin. Als sie nach zwei Tagen keine Ruhe fand, beschloss sie, die Sache vorerst ruhen zu lassen und sich abzulenken.
Eintrag Nummer 15. Der 12. November.
Mutter hatte mir endlich von ihren Gaben erzählt. »Ich bin jemand, den die einfachen Leute eine Motte nennen würden«, hatte sie gesagt. »Und zwar, weil ich wandern kann.«
Natürlich wusste ich sofort, was sie damit meinte. Magdalena konnte ihren Körper verlassen und als Geist wandeln. Das war eine der Fähigkeiten, die man als Motte besitzen konnte.
»Wieso glauben die Leute nicht, dass es solche Phänomene gibt?«, fragte ich sie, mit der charmanten Naivität einer Siebenjährigen. Ich erinnere mich, wie ihr Gesicht strahlte, obwohl sie nur ein wenig lächelte. Sie hatte ein Gesicht, das wie aus Mondlicht geformt schien. Es veränderte sich ständig und war dabei doch immer gleich wie ein gemaltes Bild; in ihren Augen tanzte das Wasser eines hellen Flusses.
»Wir Motten haben unsere Gaben immer geheim gehalten. Denn die Menschen waren lange eifersüchtig und misstrauten jenen, die anders waren als sie, vor allem wenn sie etwas besaßen, das sie nicht hatten. Früher wurden Motten und solche, die man für Motten hielt, sogar gefoltert und verbrannt.«
»Du meinst die Inquisition, Mutter?«
Meine Mutter nickte. »Zum Beispiel.«
»Bist du dann in Gefahr?«
»Nein. Vieles hat sich seitdem geändert. Ich glaube, heute sind die Menschen eher bereit, Anderssein zu akzeptieren. Eine neue Zeit der Wissenschaft, der Entdeckung und Aufklärung steht uns bevor. Wir sollten uns nicht vor der Wahrheit fürchten. Wir sollten uns darüber freuen und versuchen, sie zu verstehen.«
Ich nickte. Hätte ich damals gewusst, in welcher Gefahr meine Mutter schwebte, und dass der Verrat von ihresgleichen kommen würde, hätte ich sie davon abgehalten, ihr Können preiszugeben.
Eintrag Nummer 16. Der 14. November.
Bevor Mutter ermordet wurde, hörte ich sie mit der Verräterin streiten. Es war eine Nacht im Februar. Die Regentropfen prasselten so laut gegen die Fenster, dass ich nicht schlafen konnte. Aber noch etwas anderes hielt mich in jener Nacht wach. Ich wage zu sagen, dass es ein Gefühl war. Eine merkwürdige
Befürchtung, höchstwahrscheinlich heraufbeschworen durch frühere Überlegungen und Erlebnisse. Das menschliche Hirn kann die erstaunlichsten Zusammenhänge im Unterbewusstsein herstellen.
Ich hörte den Streit durch die Schlafzimmertür meiner Mutter. Vielleicht sollte ich es nicht Streit nennen - denn weder meine Mutter noch die Unbekannte sprach lauter als flüsternd. Die exakte Wortwahl der beiden habe ich nur noch lückenhaft in Erinnerung, nichtsdestotrotz werde ich versuchen, ihr Gespräch so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben.
»Die Welt ist für uns bereit!«, flüsterte meine Mutter. Eine Dringlichkeit und Unruhe lagen in ihrer Stimme, die ich zuvor nie bei ihr erlebt hatte und danach nie mehr erleben sollte. »Die Menschen haben sich geändert. Sie sind tolerant! Unsere Gaben werden ihnen allen helfen, wieso sollten sie sie ablehnen? Es ist selbstsüchtig, unsere Kräfte und unser Wissen für uns zu behalten!«
»Schweig!«, zischte die andere Stimme. Das Blut rauschte in meinen Ohren, so erschrocken war ich über die Strenge und Kälte der Fremden. »Menschen
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