Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
reihten sich links und rechts auf. Die Wände waren dunkel gestrichen, ihre Schritte wurden von einem alten dunkelblauen Teppich gedämpft. Endlich blieb Tigwid vor einer Tür stehen, auf die mit weißer Farbe 102 gepinselt stand. Er zog einen Schlüssel aus seinem Schuh und sperrte auf.
»Immer hereinspaziert.« Er hielt Apolonia die Tür auf,
holte ein Streichholz aus seinem Jackett und entfachte eine Lampe.
»Also hast du doch ein Zuhause.« Apolonia musterte den niedrigen Raum, während Tigwid die Tür mit dem Fuß zustieß und auch die anderen beiden Lampen entzündete, die auf einem schmalen Tisch und neben einem noch schmaleren Bett standen.
»Sieht das hier wie ein Zuhause aus?« Über einem Stuhl hingen ein paar Kleidungsstücke, die warf er unauffällig unter den Tisch und lächelte. »Hier schlafe ich bloß, wenn ich mal schlafen muss.«
»Verstehe.« Apolonia verschränkte die Arme. »Und wieso bringst du mich her?«
Tigwid zog die Tischschublade auf und stopfte sich einen Haufen Kleingeld in beide Hosentaschen. »Du willst doch bestimmt, dass ich dich später auf ein Malzbier und Kartoffelkekse einlade.«
»Eigentlich nicht. Wir haben ein paar Dinge zu besprechen, Tigwid.«
Er ließ sich auf das Bett sinken, seufzte und krempelte sich die Hose hoch. Von dem Treppensturz letzte Nacht war sein Knie aufgeschürft und er pulte an der kleinen blutigen Kruste. »Schieß los, Poli.«
»Erstens: Nenn mich noch einmal Poli, und ich erzähle der Polizei, wer du bist.«
»Poli klingt doch hübsch.« Er hob beschwichtigend die Arme, als sie einen Schritt auf ihn zumachte. »Merkst du denn nicht - hier verrät niemand seinen echten Namen! Hättest du lieber, dass ich jedem beliebigen Banditen sage, dass du Apolonia Spiegelgold heißt, Nichte des berühmten Staatsanwalts? Innerhalb einer halben Minute wärst du entführt und das wäre noch das Harmloseste. Was glaubst du, wie viele Brüder, Söhne, Cousins und Freunde dein Onkel schon eingelocht
hat? O Mann.« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, mich juckt es auch in den Fingerspitzen, dich zu kidnappen … Aber ich verdiene zu gut, um mich für so einen Job herzugeben.«
Apolonia musterte ihn mit gerunzelter Stirn, wie er so auf seinem Klappbett saß, das aufgeschürfte Knie in den Armen. »Du könntest mich nicht mal kidnappen, wenn du alle Mottengaben der Welt besitzen würdest. Und das bringt mich gleich zum Zweiten: Wo sind die … wo ist dieses Buch der Antworten?«
Er nahm sein Knie schärfer in Augenschein. »Wie lange war ich eigentlich bewusstlos? Eine Gehirnerschütterung kann verheerende Folgen haben, damit ist nicht zu spaßen. So wie Nasenbluten. Vielleicht sollte ich lieber zu einem Arzt gehen, ich kenne einen, der arbeitet hier hinter der Bar …«
»Tigwid! Wo ist das Buch?«
»Ich mach mir ja bloß Sorgen. Ein solcher Sturz, das kann tödlich sein.«
»Das einzig Tödliche an dir ist dein Geplapper! Zeig mir das Buch oder ich gehe!« Sie stampfte mit dem Fuß auf.
Tigwid erhob sich und schüttelte sich das Hosenbein wieder gerade. »Das machst du aber oft, das mit dem Aufstampfen. Man könnte meinen, du wärst verzogen.« Er grinste liebenswürdig.
»Ich bin durchsetzungsfähig«, korrigierte Apolonia. »Außerdem bin ich … Was rede ich, ich bin nicht gekommen, um mir deine Frechheiten anzuhören!«
»Ja, ja.« Er klopfte sich auf die Hosentaschen, dass die Münzen leise klimperten. »Ich musste ja auch nur Geld holen. Wir können jetzt gehen.«
»Wo genau ist das Buch? Wer hütet es?«, hakte sie nach.
Tigwid war inzwischen an die Tür getreten. »Komm her!«, raunte er. Apolonia ging zu ihm. Einen Moment lang erwiderte er bloß ihren Blick, und als Apolonia sich schon fragte,
ob er vielleicht mit offenen Augen eingeschlafen war, beugte er sich zu ihr vor. Seine Wange berührte fast die ihre, und er neigte leicht den Kopf, um sie anzusehen. Apolonia wich irritiert zurück und machte ein Doppelkinn - da erst wurde ihr klar, dass er ihr etwas ins Ohr flüstern wollte.
» Eck Jargo ist vielleicht der sicherste Ort vor der Polizei. Aber hier laufen jede Menge Mörder und Verbrecher rum, deshalb sollten wir nicht über das Buch reden, sobald wir dieses Zimmer verlassen haben. Verstanden?«, flüsterte Tigwid.
Sie nickte ungeduldig und trat einen Schritt zurück.
»Gut.« Er drückte die Türklinke hinunter. Dann holte er tief Luft. »Das Buch … ist irgendwo hier und wir müssen es irgendwie finden.« Er riss die Tür auf
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