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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Augen lebten die Schatten der Menschen, die sie geliebt und verloren hatte.
    »Paolo …« Sie berührte ihre geschminkten Wangen und schob sie nach oben. Endlich fand sie wieder die Ähnlichkeit zu jenem Mädchen, das den Spiegel schon vor so vielen Jahren verlassen hatte. Sie betrachtete sich ausgiebig. Niemand würde sich an dieses Gesicht erinnern. Niemand würde ihren Namen kennen, wenn sie starb. An Paolo wird man sich noch lange erinnern, dachte sie. Deshalb war er früh gestorben. Sie seufzte und ließ die Arme fallen.
    Berühmtheit war gefährlich. Jeder hatte Paolo Jargo gekannt, seine Abenteuer waren von Mund zu Mund gegangen wie die Volksmärchen. Letzten Endes hatte ihm all der Ruhm doch nichts gebracht, denn er war von der Polizei gejagt und noch auf seiner Flucht von feindlichen Banditen ermordet worden.
    Dotti hingegen war der Polizei gar nicht bekannt. Den Banditen, die sie täglich in Eck Jargo sahen, war sie vollkommen egal. Schließlich war sie keine Machthaberin, niemand Wichtiges, auf dessen Ruhm und Reichtum man neidisch sein konnte. Sie war nur eine alte Tänzerin, die die Befehle der Männer ausführte, die sich hinter dem legendären Namen Paolo Jargo verbargen. Mehr nicht.
    Dotti schob sich ihr Kleid zurecht und zupfte an der Rüschenspitze, die ihren Ausschnitt säumte. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, öffnete die Kasse von Bluthundgrube und begann, die neuen Scheine zu bündeln.

    Sollte die Welt doch denken, was sie wollte. Gedanken der Ehre waren nichts wert; die Bewunderung, die in den Köpfen der Menschen lebte, machte nicht satt. Dotti brauchte nicht die Ehrerbietung, die ihr in Wahrheit zustand. Ihr reichte es, wie die rechtmäßige Besitzerin von Eck Jargo zu verdienen.
     
    »Grüß dich, Schätzchen.« Es war der erste Mann in Eck Jargo , der Apolonia angrinste. Alle anderen hatten ihr einen Gewehrlauf auf die Brust gedrückt. »Na, in welche Ecke willst du?«
    Apolonia stand vor dem wuchtigen Schreibtisch und ließ den Blick über die acht Türöffnungen schweifen, die sich wie aufgesperrte Mäuler in den dunklen Raum öffneten.
    »Was für Ecken gibt es?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte einen schrillen, hastigen Ton angenommen. Das kam von den Todesgedanken, die sie angesichts mehrerer Dutzend Waffen gehabt hatte.
    Der Mann an der Rezeption grinste noch immer. »Nun, da gibt es Himmelszelt , wenn du Erholung brauchst, die Rote Stube , wenn du ein paar hübsche, junge…-na ja, dann gibt es noch das Mauseloch ,’ne hübsche Schänke, die Wiegende Windeiche oder … ich glaube, Bluthundgrube is nich so was für Mädels wie dich, und das Laternenreich würd ich dir auch nich empfehlen, denn da kommst du als Wrack wieder raus, wenn überhaupt …«
    Der Wächter blickte auf, als Schritte erklangen. Tigwid erschien auf der Treppe, hüpfte die letzten Stufen hinab und legte einen Arm um Apolonia.
    »Tag.«
    »Name!«, blaffte der Wächter und schloss einen Bleistift in die Faust.
    »Ich bin Jorel«, leierte Tigwid herunter, »und meine Begleiterin ist Poli, Neuankömmling, unter einundzwanzig, weiblich, berufslos in unseren Branchen.«

    Es dauerte eine Weile, bis der Wächter alles in ein schwarzes Buch notiert hatte. Während er dem Papier die Buchstaben aufdrückte, machte er ein angestrengtes, wütendes Gesicht, und als er endlich fertig war, ließ er erleichtert den Stift sinken und lehnte sich zurück.
    »In welche Ecke wollt ihr?«
    »Wir wollen eine Rundschau machen, aber zuerst gehen wir in Himmelszelt .«
    Der Wächter grinste kurz, dann überschattete wieder Anstrengung sein Gesicht und er notierte mit konzentrierter Miene H. Z. ins Buch. »Gut. Dann viel Spaß.«
    Tigwid führte Apolonia auf eine Türöffnung zu. Sie schritten eine enge Treppe hinab, bis sie eine Tür mit Stahlbeschlägen erreichten. Tigwid klopfte an. Kurz darauf öffnete sich ein Schiebefenster in der Tür und ein Augenpaar richtete sich auf die beiden.
    »Was wollt ihr in Himmelszelt ?«
    »Ich bewohne hier ein Zimmer«, sagte Tigwid. »Mein Name ist Jorel, unter einundzwanzig, männlich, beruflich angestellt in unseren Branchen, Arbeitgeber Mone Flamm, Zimmer hundertzwei.«
    Das Schiebefenster schloss sich. Einen Moment später schwang die Tür auf und der Wächter ließ sie eintreten. Neben einer langen Rezeption, die von gewehrtragenden Wächtern geführt wurde, zweigten fünf Korridore ab. Tigwid steuerte auf einen zu. An der Decke hingen flackernde Petroleumlampen. Rot bemalte Türen

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