Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Friechen heißt sie.«
»Ähm.« Apolonia räusperte sich leise. Offenbar erwartete man von ihr, dass sie in irgendwelchen Passwörtern sprach. Eilig rief sie sich ins Gedächtnis, was Tigwid soeben gesagt hatte. »Äh, ich will … Tee trinken.«
»Na«, sagte der Wächter. »Dann woll’n wir mal sehen, was du ihr mitbringst.«
Er tastete ihre Arme und Beine ab und klopfte ihr mit dem Messer gegen die Schuhe. Als er die ungeschnürten Schnürsenkel bemerkte, grinste er. »Grad eben geklaut, wie?«
Apolonia wollte schon zu einer heftigen Antwort ansetzen,
als sie begriff, dass die Bemerkung durchaus anerkennend gemeint war. Ihr verdutztes Schweigen griff der Junge offenbar als »Ja« auf.
Er kam federnd wieder auf die Beine und wippte vor Apolonia und Tigwid auf und ab. »Einlass macht dann sechs Mäuse pro Kopf.«
Tigwid begann zu lachen. »Ich war schon Gast in der Roten Stube , da hast du noch Taschentücher gemopst! Eintrittsgeld gab’s noch nie, Schätzchen.«
Der Junge grunzte und machte eine nachlässige Bewegung mit seinem Messer. Die Klinge schwang grässlich nah an Apolonias Nasenspitze vorbei. »Los, haut ab. Viel Spaß.«
Tigwid legte dankend eine Hand aufs Herz und schob die Haustür wieder auf. Apolonia folgte ihm verdattert. Die Alte schlich am fernen Ende der Sackgasse durch den Schnee und fegte gerade die Spuren weg, die Tigwid und Apolonia hinterlassen hatten.
»Da rüber.« Tigwid wies auf das Geschäft. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und seufzte, als sie die Straße überquerten. »Hat ja einwandfrei geklappt. Bei Mädchen sind die Wächter immer nachsichtiger. Eigentlich eine ziemliche Schweinerei für uns Männer, wenn man drüber nachdenkt.«
Apolonia war noch nicht so weit, um über irgendetwas nachzudenken. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass eine Waffe so viel Furcht auslösen konnte … innerlich ärgerte sie sich, dass sie so verängstigt war.
Die Tür des Geschäfts war geschlossen. Durch die staubige Fensterscheibe erspähte Apolonia einen dämmrigen Laden mit hohen Regalen voller Dosen und Gefäße.
Tigwid kümmerte sich nicht um das feste Eisenschloss am Türgriff; zielsicher schob er beide Türangeln nach oben. Sie ließen sich problemlos bewegen und mit einem leisen Luftzug schwang die Tür nach innen auf.
»Also.« Tigwid wandte sich Apolonia zu. »Man darf immer nur alleine eintreten, einer nach dem anderen. Du hast den Vortritt. Gleich wenn du drinnen bist, wirst du Fräulein Friechen treffen, sie wird dir ihren Gehstock in den Rücken halten, aber wegen der Klinge musst du dir keine Sorgen machen. Das sind alles nur Sicherheitsvorkehrungen. Wenn du tust, was man dir sagt, und dich nicht hastig bewegst, stößt dir auch nichts zu.«
»Ach so …« Dann erklärte ihr Tigwid genau, was sie tun sollte. Oder, was sie nicht tun sollte. Und davon gab es eine Menge.
Dotti zählte ihr Geld. In dicken Bündeln legte sie es in den grünen Stahlsafe, der in einem Geheimfach in der Wand versteckt war. Das Kleingeld schüttete sie in eine Porzellanvase auf ihrem Schreibtisch. Ihr Büro war wie das Zimmer einer Königin eingerichtet, voll goldener Kerzenleuchter und kostbarer Teppiche aus Usbekistan und der Türkei. Die Wände waren dunkelrot gestrichen und ein paar altertümliche Apparaturen verliehen dem Raum eine geheimnisumwitterte Atmosphäre. Es waren Schätze des großen Paolo Jargo, die er während seiner Glanzjahre erbeutet hatte - das behauptete Dotti jedenfalls, wenn man sie fragte, woher sie kämen. In Wirklichkeit war weder der versilberte Affenschädel noch der antike Bronzeglobus von Paolo Jargo. Dotti hatte die Sachen bei verschiedenen Hehlern ersteigert oder aus Gefälligkeit geschenkt bekommen, und das Einzige, was Dotti von Jargos Schätzen noch besaß, war sein Name. Sein Name war Gold wert.
Mit einem zufriedenen Seufzen legte Dotti ihre Geldbündel zusammen, stapelte sie aufeinander und schloss den Tresor. Die fünfstellige Zahlenkombination kannte niemand außer ihr. Dann schloss sie auch die Wandnische und blickte in den Spiegel, der vor dem geheimen Safe hing. Er war von vergoldeten,
ineinandergreifenden Händen eingefasst - eine besondere Ersteigerung, für die Dotti ein kleines Vermögen gelassen hatte. Im matten Schein der Kerzen betrachtete Dotti ihr Gesicht. Es war nicht mehr das des jungen Mädchens … nicht das von Jargos großer Liebe. Es war das Gesicht einer gealterten Tänzerin, die einmal schön gewesen war. In ihren
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