Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Bühne. Ein Messer bohrte sich vibrierend in den Türrahmen, einen Zentimeter an Apolonias Hals vorbei. Im Gang standen die vermeintlichen Wurstdiebe.
»DA!«
»Los!« Apolonia stürzte hinter Tigwid her, sie kämpften sich an Tänzerinnen und Puderquasten vorbei, schlüpften durch die Tür und rannten die Treppe hinab. Wogen von hellem Gekreische ertönten hinter ihnen, dann trommelten Schritte auf den Stufen.
»Beeil dich!«, schrie Apolonia und schlug und drückte gegen Tigwid, der vor ihr rannte. Es war so dunkel, dass sie kaum die Stufen erkannten. Apolonia stieß hart gegen Tigwids Rücken, als die Treppe vor einer Tür endete. Mit rutschigen Fingern riss Tigwid die Tür auf.
Rotes Licht strömte ihnen entgegen. Die beiden stürzten voran, und kaum dass die Tür hinter ihnen zufiel, bohrten sich ein Dutzend Wurfmesser ins Holz.
Apolonia und Tigwid rannten durch stickig warme, dämmrige Zimmer, vorbei an Betten und Liegen voll dösender Gestalten. Eine Chinesin wich erschrocken vor ihnen zur Seite, sodass ihr fast die große Wasserpfeife aus den Händen fiel. Apolonia wurde klar, dass sie in einer Opiumhöhle gelandet waren. Laternenreich .
Irgendwo hinter ihnen erklangen laute Stimmen. Glas klirrte. Eine Zitterspielerin hielt mitten im Lied inne. Tigwid und Apolonia waren in einem Zimmer angekommen, aus dem keine Tür führte. Nur ein holzverziertes Fenster in der Wand.
Tigwid sprang auf das feine Seidenbett und schlüpfte durchs
Wandfenster. Der Mann, der unter der Decke lag, stöhnte auf. Apolonia raffte Kleid und Mantel und folgte Tigwid in zwei Sätzen. Sie landete auf einem zweiten Bett, stolperte über die aufjaulende Person darin und fiel gegen merkwürdige Gerätschaften auf dem Boden.
Tigwid half ihr auf und sie durchquerten den großen, dunklen Raum. Am anderen Ende war ein Flur mit mehreren Zimmeröffnungen. Der Lärm ihrer Verfolger schien plötzlich näher. Schweiß glänzte auf Tigwids Stirn. Er drehte sich in jede Richtung, lauschte; die Stimmen und Schritte kamen von irgendwo ganz nah. Hinter den Wänden aus geschnitztem Holz schienen jedes Licht und jede Gestalt in Bewegung zu sein.
»Hier rein!« Tigwid lief in ein Zimmer - und stieß gegen jemanden.
Vor ihnen stand ein weißhaariger Mann mit einem Schnauzer, einer runden Goldrandbrille und wässrig grauen Augen. Sein Hemdkragen stand offen und in der Hand hielt er eine längliche Pfeife.
»Jorel. Du bist Jorel, richtig?«, sagte er leise. Sein Blick glitt zu Apolonia und seine trüben Augen glitzerten. Dann hörte auch er die wüsten Rufe. »Kommt, ich bringe euch hier weg.« Die Pfeife glitt ihm einfach aus der Hand und fiel auf den Boden. Der Mann drehte sich um und durchquerte das kostbar eingerichtete Zimmer, das ihm offensichtlich gehörte.
»Wer sind Sie?«, fragte Tigwid verblüfft.
Der Mann schob eine Schiebetür aus Seidenpapier auf und wies in einen dunklen Gang. »Für Fragen ist später Zeit. Jetzt müssen wir euch erst einmal von euren Verfolgern befreien.«
Apolonia spürte, wie Tigwid instinktiv zurückwich. »Erst Ihr Name.«
Der Mann schob seine Goldrandbrille zurecht und besah Apolonia mit einem langen, eingehenden Blick. »Mein Name ist Ferol. Professor Rufus Ferol.«
Die Dichter
S ie tasteten sich durch undurchdringliche Finsternis. Hin und wieder fasste Apolonia in Wasser, wo Rinnsale über das unebene Gestein liefen und der Gestank ihr fast den Atem raubte.
»Wo bringen Sie uns hin?«, fragte sie in die Dunkelheit. Sie merkte, dass der Mann immer wieder stockte und nur langsam lief, weil Tigwid vor ihr oft innehielt.
» Labyrinth , Kinder. Das hier ist ein privater Geheimgang. Eure Verfolger werden ihn nicht finden.«
»Wieso helfen Sie uns?«, wollte Tigwid wissen. Für mehrere Augenblicke waren nur ihre Schritte auf dem rauen Steinboden zu hören.
»Ich helfe eben, wo ich kann.«
»Und woher kennen Sie meinen Namen?«
Apolonia lief Tigwid in den Rücken, als sie abermals stehen blieben. Ihre Hand glitt über die Wand - und über eine Klinge. Tigwid hielt ein Messer in der Faust.
»Aber -«
»Schschsch!« Sie spürte seinen Atem an der Stirn. »Zur Sicherheit«, flüsterte er.
Sie gingen weiter. Apolonia stolperte benommen voran.
»Wir sind gleich da. Seid ihr beide noch zusammen?«
»Ja«, antwortete Tigwid nach einem Moment. Apolonia spürte, wie er anhielt, obwohl ihr geheimnisvoller Führer weiterging. Nach einigen Augenblicken setzte auch er sich wieder in Bewegung. Nun waren sie nicht
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