Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
wieder der Wand zu.
Als ihr größter Hunger gestillt war, erwachte Apolonias Mitgefühl. Sie nahm eine Handvoll Kuchen und fragte: »Willst du denn nichts essen?«
»Ich … doch …«
»Streck die Hand aus.« Apolonia ließ den Kuchen in seine Hand fallen und ihre Finger berührten sich.
»Danke«, murmelte er.
Apolonia setzte sich zurück und betrachtete ihn, während sie aßen. Vampa war nicht gerade zart gebaut, trotzdem verhieß seine Statur kaum die Kraft, die er besaß. Sein Rücken war schmal, und der weiße Nacken, der unter dem dunklen Haar sichtbar war, wirkte fast mädchenhaft. Dabei fiel Apolonia auf, dass sich etwas verändert hatte… Sie runzelte die Stirn. Waren seine Haare nicht vorhin noch zehn Zentimeter kürzer gewesen?
Ein behüteter Bericht
J igwid ging mit gleichmäßigen Scheitten durch die Straßen. Er wusste jetzt mit Sicherheit, dass Dotti die Wahrheit gesagt hatte: Er wurde verfolgt. Seine scheinbare Befreiung war ein abgekartetes Spiel gewesen. Einmal hatte er so getan, als müsse er sich den Schuh binden, und zurückgeblickt; am anderen Ende der Straße war ein Mann mit Mantel und Melone geradewegs im nächsten Hauseingang verschwunden. Typisch Polizeispion.
Aber Tigwid war schließlich ein Meister im Beschatten - und jemanden abzuhängen, war für ihn ein Kinderspiel.
So ging er weiter, die Hände in den Taschen vergraben und den Kopf gesenkt wie jemand, der von einem zufällig vorbeikommenden Blaurock nicht erkannt werden möchte. Es schneite nicht mehr, doch die Kälte war nur noch bitterer geworden. Schuppige Pelze aus Raureif überzogen die Straßenlampen und Eiszapfen wuchsen von den Regenrinnen der Häuser wie lange Fingernägel. Das Kopfsteinpflaster war glatt und rutschig vor Eis. Tigwids Atem tanzte in weißen Wölkchen vor ihm her.
Er suchte sich einen Weg in die weniger schönen Wohnviertel, aber er mied die Gegenden der Wirtshäuser und Schänken und wählte verlassene Straßen.
Schließlich fand er ein mehrstöckiges Wohnhaus, das seinen Vorstellungen entsprach. Er hatte hier einmal ein Paket für Mone Flamm abgeholt, und er wusste, wie der Hinterhof aussah und wie man über die Mauer dahinter kam.
Er sah sich nach allen Seiten um, als wolle er sichergehen, dass er unbeobachtet war. An der Straßenecke kam ein Mann mit Mantel und Melone vorbei, ohne in die Straße einzubiegen oder Tigwid anzusehen. Sein Verfolger hatte ihn also entdeckt.
»Dann mal los«, murmelte Tigwid, lief die Stufen zur Haustür hinauf und drückte die Klinke hinunter. Die Haustüren waren hier selten mit einem Schloss versehen, in dieser Gegend gab es nämlich kaum Stehlenswertes. Als Dieb wusste Tigwid das.
Er schlüpfte in ein stockdunkles Treppenhaus und schloss leise die Tür hinter sich. Aber er erinnerte sich, wo der Hinterausgang war - er hatte ein gutes Gedächtnis, wenn es um Häuser und Fluchtmöglichkeiten ging. Eilig tastete er sich an der Wand entlang, bis er ein niedriges Fenster erreichte. Es gab zwar eine Tür, die ein Stockwerk tiefer in den Hinterhof führte, aber die war für gewöhnlich verrammelt, damit die Ratten nicht ins Haus kamen, die draußen im Müll hausten. Tigwid kniete nieder, schob das Fenster auf und zwängte sich hindurch. Glücklicherweise berührten seine Füße bald festen Untergrund: Die Mauer, die den Hof von der nächsten Straße und den anderen Wohnhäusern trennte, war direkt unter ihm. Irgendwo drang das Klappern von Kochtöpfen aus einem Fenster, begleitet von streitenden Stimmen. Tigwid entschuldigte sich in Gedanken bei den Hausbewohnern, denn heute Nacht würde die Polizei ihnen noch einen Besuch abstatten. Und zwar, wenn er längst über alle Berge war.
Geduckt huschte er über die Mauer, erreichte einen Kastanienbaum, der sich aus dem Hof zur Straße hinausbeugte,
griff nach den Ästen und schwang sich hinunter. Er kam leichtfüßig auf dem Bürgersteig auf. Nur ein paar Eissterne rieselten von den Zweigen des Kastanienbaumes und glitzerten im schwachen Mondschimmer. Tigwid erhob sich aus seiner geduckten Landeposition und zog sich das Jackett zurecht.
Angesichts seines trickreichen Manövers kam er nicht umhin, sich mit einem stolzen Grinsen zu beglückwünschen. Dann vollführte er ein kurzes Freudentänzchen, das aus einer Pirouette und einem übermütigen Sprung bestand und damit endete, dass er sich den Kragen seines Jacketts aufrichtete. So setzte er sich endlich in Bewegung und ging beschwingt die Straße hinunter. Allerdings
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