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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Geschäften, die auf dieser Uferseite die Häuser füllten. Wie friedlich und still und menschenleer war hier die Nacht! Tigwid hatte es immer geliebt, zu später Stunde durch diesen Stadtteil zu laufen - was er überdies mit seinem gelegentlichen Nebenberuf gut hatte vereinbaren können. Im Sommer war nachts mehr los, stets hörte man von irgendwo Stimmen oder grölende Betrunkene, Musik wehte aus den Fenstern und verliebte Paare trafen sich im Schutz der Dunkelheit. In der Kälte dieser Jahreszeit hielt es allerdings niemand lange draußen aus. So war Tigwid der Einzige, der noch auf den Beinen war. Er spähte an den Ahornbäumen vorbei auf die silbrigen Wellen des Flusses und fröstelte. Wie kalt das Wasser jetzt wohl sein mochte?
    Gleich hinter der Brücke erhob sich ein schlichtes weißes Gebäude mit mehreren Messingschildern neben der Tür. Zwischen einem Arzt, einem Bankier, einer Privatdetektei, einer Spedition und einer Anwaltskanzlei wirkte das zierlich beschriftete Schild ziemlich unscheinbar, auf dem der Name Manuel van Flamm unter den schnörkeligen Schriftzug Kunst- und Antiquitätenhandel eingraviert war. Dabei standen alle genannten Unternehmen in Wahrheit unter Flamms Kommando. Der Arzt fischte Kugeln aus Schusswunden und flickte Messerstiche, die man den öffentlichen Krankenhäusern lieber nicht erklären wollte. Der Bankier beschäftigte einige hauseigene Experten, die im professionellen Geldeintreiben und Erpressen geschult waren. Die Anwaltskanzlei kümmerte sich um den Papierkram, der in allen sechs Geschäftszweigen anfiel, und wusch sämtliche Westen rein, weshalb Banditen sie öfter »die flamm’nde Waschküche« nannten. Die Privatdetektei war tatsächlich eine Detektei - wenn man Flamms skrupellose Spionage ehrliche Detektivarbeit nennen konnte. In der Spedition war Tigwid tätig und lieferte
vor allem das aus, was durch Mone Flamms Kunsthandel floss, aber er überbrachte auch die Berichte der Detektei. Und auf die hatte er es nun abgesehen.
    Er kletterte auf die schmale Überdachung über der Haustür und stieg auf eine breite Stuckverzierung, um das Fensterbrett über ihm zu erreichen. Die Fenster waren hier alt und nicht besonders robust. Tigwid zog sein Messer aus einer versteckten Tasche in seiner Hose und schob die Klinge in die Fensteröffnung. Die weiße Farbe auf dem Holz bröselte, und der Rahmen knackte, als Tigwid das Fenster aufzubrechen versuchte. Aber vergebens. Es war von innen verriegelt und ließ sich nicht öffnen. Tigwid steckte das Messer wieder in seine Tasche und spähte durch die Glasscheibe. Für ihn war ein verschlossenes Fenster kein wirkliches Hindernis.
    Drinnen war ein Schiebegriff. Vorsichtig legte er die Handflächen auf das kalte Glas, um dem Schiebegriff näher zu sein. Sein Atem ließ das Fenster beschlagen.
    Und da, der Griff begann zu zittern. Unter leichtem Rucken und Zucken glitt er zurück und Tigwid konnte das Fenster problemlos hochziehen.
    Ohne seine Mottengabe wären ihm nicht halb so viele Einbrüche geglückt, und seiner Gabe verdankte er auch den guten Ruf, den er als Mone Flamms gewissenhaftester Bote genoss. Trotzdem war es ihm ein Rätsel, wie seine Gabe funktionierte.
    Er stemmte sich am Fensterbrett hoch und sprang lautlos in den dunklen Raum. Es war ein Büro mit einem Schreibtisch, einem Ledersessel und einigen Regalen voller Ordner und falscher Bücher, in denen statt Seiten Geld und anderes versteckt war. Er hatte sein Ziel erreicht - das Büro der Detektei. Links erspähte er eine Tür, die in einen anliegenden Raum führte. Da es hier kein Fenster gab und nicht einmal der blasse Mondschein hereindrang, beschloss Tigwid, eine
kleine grüne Schreibtischlampe anzuknipsen. Der Raum erhellte sich.
    An allen vier Wänden zogen sich graue Aktenschränke hoch. Tigwid ging an ihnen vorüber. Jahreszahlen klebten an den verschiedenen Schränken. Tigwid zog die oberste Schublade auf. Zahllose Papiere und Akten waren durch Trennblätter sortiert, auf denen in alphabetischer Reihenfolge Namen notiert waren. Eine Weile überflog Tigwid sie. Dann schob er die Schublade wieder zu und griff nach einer weiter unten gelegenen. G. Noch weiter unten. Da - M.
    Er strich über die dicht gedrängten Papiere. Mafhel Paul, Marek K., Mengel Julius… Tigwid las nur die ersten beiden Buchstaben, bis er Mo entziffert hatte. Wenn es eine Akte über Morbus gab, dann hier. M-o-r…ciz. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die letzten Buchstaben des

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