Nocturne City 01 - Schattenwoelfe
halten. Ich weiß, dass es deine Pflicht ist, die Sache durchzuziehen, Dmitri, und ich hoffe nur, dass du mich nicht hasst, wenn ich dir sage, dass ich nicht wirklich dorthin gehen möchte.“ Das war die absolute Wahrheit. Alistair Duncan und alles um ihn herum jagte mir eine Höllenangst ein, und das Schlimmste war, dass ausgerechnet ich, die ich Magie verabscheute, nun gezwungen war, mich in die Höhle des Bluthexers zu begeben.
Dmitri blieb stehen und schaute mich mit leicht schräg gelegtem Kopf an. „Verdammt, Luna, denkst du vielleicht, ich habe da besondere Lust drauf? Aber dieser Schlächter hat meine Schwester, also bleibt mir verdammt noch mal keine Wahl, oder?“
„Nein, eigentlich hast du keine Wahl“, flüsterte ich und blieb ebenfalls stehen.
„Du musst nicht mitkommen.“
Ich schloss die Augen und sah nacheinander in die toten Gesichter von Lilia, Marina, Katya und der drei Frauen in Duncans Haus. Alistair hatte sie wie Müll behandelt, ihnen nichts gelassen außer dem Tod. Sie hatten niemanden mehr außer mir. Dann öffnete ich die Augen wieder und ging weiter. „Ich will aber mitkommen.“
„Warum?“ Dmitri musste kurz laufen, um mich wieder einzuholen.
„Aus Verpflichtung dem Rudel gegenüber!“, antwortete ich. Daraufhin nahm Dmitri meine Hand und ging an meiner Seite.
„Verstehe.“
Die Wohnungsbaubehörde war ein halb verbrannter Koloss. Die intakte Seite bestand komplett aus Glas und Stahl und zeugte vom einstigen Stolz des beeindruckenden Gebäudes. Die andere Seite war eine schwarz verkohlte und in sich zusammengefallene Ruine. Nur eins der Fenster der noch stehenden Hälfte war erleuchtet.
„Er ist in diesem Gebäude“, sagte Dimitri. „Ich kann ihn riechen.“
Auch ich nahm ihn wahr. Weniger durch seinen Geruch, sondern eher durch ein Gefühl, das ich nicht genau bestimmen konnte.
Der Wind trieb die vor Kurzem aufgezogenen Wolken zügig vor sich her, und in unregelmäßigen Abständen blitzte silberfarbener Mondschein vom Himmel.
Dmitri hielt mich zurück. „Was auch immer da drin passiert, ich werde Duncan töten.“
Ich entriss ihm meinem Arm. „Nein.“
„Luna …“
„Nein!“, fauchte ich wütend. „Schlag dir das aus dem Kopf, Dmitri! Duncan wird dich ohne viel Federlesen niederstrecken!“
„Und warum glaubst du, dass du besser bist als ich?“, fragte er mich, als ich die rostigen Doppeltüren aufzog. „Warum glaubst du, dass er nicht auch dich töten wird?“
„Weil er mich haben will“, flüsterte ich. „Er will mich töten, um seine Dominanz zurückzugewinnen und wieder unumstrittener Herr der Lage zu sein.“
Hinter den Türen lag eine Wand aus dichtem Qualm und rotem Licht vor mir, die Erinnerungen an Lilia und die neonfarbene Reklametafel über dem ersten Tatort weckten.
Dmitri holte mich wieder ein, als ich die Qualmwolke durchquert hatte und vor einem am Haken hängenden Körper stehen blieb.
Es war Stephen. Er war nackt, und seine Handgelenke waren mit Ketten umwickelt. Über den Rippen befand sich keine Haut mehr, Gesicht und Oberkörper waren bis zur Unkenntlichkeit blutig geschlagen worden.
Als ich näher trat, stöhnte er. „Verschwindet …“
Ich zerrte an den Ketten, bis sie endlich nachgaben und Stephen in meine Arme fiel. „Es tut mir leid“, sagte ich. „So leid …“ Erst als Dmitri ihn von mir weg in einen besser beleuchteten Bereich zog, merkte ich, dass ich wieder und wieder die gleichen Worte sagte.
„Scheiße“, rief Dmitri. Stephens Gesicht hatte die Wandlung schon halb vollzogen, und aus dem viel zu kleinen menschlichen Kiefer ragten bereits die unglaublich langen Zähne. Sein ganzer Körper stemmte sich gegen die Wandlung, aber das bisschen Willen, das noch in ihm wohnte, konnte das Unvermeidliche nicht mehr aufhalten.
Mit einer unerträglichen Qual in den Augen starrte er mich an und krächzte: „Lauft!“
Dann verwandelte sich sein Gesicht völlig in das des Werwolfs. Er ging in die Knie und fiel vornüber auf die Vorderläufe. Die Wunden an seinem Körper waren immer noch sichtbar, und es schien so, als sei diese erzwungene Wandlung der letzte Teil von Alistairs Folter.
Stephen knurrte und kam langsam auf mich zu, wobei er seinen verletzten Vorderlauf an den Brustkorb presste. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, ob er sich willentlich oder durch den Zwang seines Vaters in einen Werwolf verwandelt hatte, denn jetzt war er nichts weiter als ein Raubtier – verwundet, schmerzerfüllt und äußerst
Weitere Kostenlose Bücher