Noelles Demut
der Tür holte Noelle tief Luft. Immer wieder begann sie zu lachen. Ein Pärchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie an, als wäre sie verrückt. Nur mühsam fand sie zu ihrer Würde zurück. Es tat so gut, mal wieder ausgelassen zu lachen.
„Es freut mich, dass es Ihnen besser geht“, hörte Noelle eine volltönende, dunkle Stimme hinter sich. Alles in ihr erstarrte. Sie mochte sich nicht umdrehen. Nicht aus Angst vor dem Mann, sondern wegen des Umstandes ihrer ersten Begegnung.
„Noelle!“
Jetzt flatterte ihr das Herz doch vor Angst. Woher kannte er ihren Namen?
„Was wollen Sie von mir?“ Das war nun wirklich eine dumme Frage. Immerhin hatte sie seinen Freund oder Bruder oder wen auch immer angefahren und sich dann aus dem Staub gemacht. Als sie sich doch zu ihm umdrehte, sah sie jedoch keinen Ärger in seinen Augen. Er sah eher verwirrt aus.
„Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Sie werden polizeilich gesucht“, antwortete er sachlich.
„Das kann ich erklären. Ich wollte das nicht. Es war Notwehr. Er hat versucht …“ Noelle hielt inne. Warum erzählte sie ihm das eigentlich? „Sind Sie von der Polizei?“
„Nein!“
Etwas an ihm machte Noelle wütend. Dabei sollte sie eingeschüchtert sein. Er überragte sie um Haupteslänge, war muskelbepackt wie ein Pitbull und stand bedrohlich nahe vor ihr. Und doch konnte sie sich nicht bremsen. „Antworten Sie auch mal in ganzen Sätzen?“
„Ich bin nicht von der Polizei.“ In seinen Augen blitzte es belustigt auf. Seine Mundwinkel zuckten.
„Woher wissen Sie dann, dass man mich sucht?“
„Eine Freundin von mir ist Staatsanwältin.“
Jetzt wurde Noelle schlecht. Die Staatsanwaltschaft suchte nach ihr? Das konnte nur bedeuten, dass sie Tom umgebracht hatte. Sie hätte ihn nicht liegen lassen dürfen. Wenigsten einen Notarzt hätte sie rufen müssen.
Taumelnd streckte sie eine Hand nach ihm aus, als ihr schwindlig wurde.
„Wird das zur Gewohnheit, in meinen Armen zu landen?“
Noelle suchte auf ihren wackeligen Beinen Halt und krallte ihre Hand in seinen Arm. Für ein paar Sekunden hielten sich ihre Blicke gefangen. Noelle schluckte krampfhaft. „Was werden Sie jetzt tun?“, flüsterte sie.
„Meine Freundin anrufen und ein Treffen vereinbaren. Wenn Sie sich nicht stellen, machen Sie alles nur noch schlimmer.“
Noelle traten Tränen in die Augen. Die Illusion einer Zukunft zerplatzte wie eine Seifenblase. Sie würde den Rest ihres Lebens in einer Gefängniszelle fristen. Das hatte sie nun davon, dass sie sich einmal zur Wehr gesetzt hatte. Ein klägliches Schluchzen entstieg ihrer Kehle.
„Es wird alles gut“, hörte sie den Fremden sagen. „Ich werde Ihnen helfen.“ Und dann schlossen sich seine Arme sanft um sie. Für eine Millisekunde war Noelle versucht, sich dieser Berührung hinzugeben, bis sie begriff, was er gesagt hatte. „Warum sollten Sie das tun?“
„Sie schulden mir Geld.“
Entsetzt riss Noelle den Kopf hoch. „Wie das?“
„Ihre Krankenhausrechnung. Die Reparatur des Ferraris muss ich nicht extra erwähnen.“
Fassungslos starrte Noelle ihn an. In ihrem Kopf schien ein einziges Chaos zu herrschen. Hatte sie ihn richtig verstanden? Warum sollte er ihre Schulden bezahlt haben? Das konnte nur ein weiterer Scherz ihres verkorksten Lebens sein.
Der Mann hielt sie immer noch am Arm fest, als er sein Handy aus der Tasche kramte und eine Nummer wählte.
„Noelle ist bei mir“, sagte er bestimmend. „Nein, wir treffen uns auf neutralem Boden. Ich werde sie nicht der Polizei übergeben, bevor du nicht mit ihr gesprochen hast.“
Sein Blick bohrte sich in Noelles, als sie an ihrem Arm zog. Angst jagte durch ihre Venen.
„In einer halben Stunde in der Galerie. Komm allein!“ Er verstaute das Handy und lächelte Noelle aufmunternd an. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ihre Verletzungen sprechen eine eigene Sprache. Erstatten Sie Anzeige gegen das Schwein, und alles wird sich klären.“
„Er lebt also noch?“
„Haben Sie gedacht, Sie hätten ihn umgebracht?“
„Nein!“ Noelle schwirrte der Kopf. Es war absurd. Da stand sie mitten auf der Straße und diskutierte mit einem Fremden, ob sie ihren Mann umgebracht hatte oder nicht. „Sie haben das doch behauptet.“
In diesem Moment wurde die Tür zur Galerie aufgerissen. Wie eine Furie stürzte Lydia heraus und schlug mit ihrer Handtasche auf ihn ein.
„Lass sie los, du Schuft!“
Der Mann wirbelte herum, wollte nach Lydia greifen
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