Noelles Demut
überwältigen.“
Noelle sah verwirrt die Staatsanwältin an. Die Feindschaft ihrer Anwältin war nicht zu übersehen. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie zu erzählen begann.
„Er hat mich durch die Wohnung gejagt. In der Küche hatte er mich in die Enge getrieben und schrie mich an. Ich weiß schon nicht mehr, was er alles gebrüllt. Ich sah nur seinen irren Blick und wusste: diesmal bringt er mich um. Dann hatte er plötzlich das Messer in der Hand. Ich konnte nur noch dieses Messer anstarren. Ich hatte solche Angst.“ Noelles Stimme brach. Die Staatsanwältin goss ihr ein Glas Wasser ein und reichte es ihr. Gierig trank Noelle es aus.
„Ich hatte die Arbeitsplatte im Rücken und brach in Panik aus. Er stand etwa einen Meter vor mir, brüllte mich an und fuchtelte mit dem Messer rum. Ich weiß selbst nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich habe mich an der Platte festgehalten, die Beine angezogen und ihn weggetreten. Dann lag er auf dem Boden und jammerte. Als er das Messer unter sich hervorzog, war es blutverschmiert. Ich wollte das nicht, das müssen Sie mir glauben. Ich wollte ihn nicht verletzen.“ Ihre Anwältin schwieg. Die Staatsanwältin streichelte ihr beruhigend die Hand.
„Simon sagte, Sie wurden ärztlich untersucht?“
„Ja.“
„Ich werde die Unterlagen anfordern. Sie müssen die Papiere für die Entbindung der Schweigepflicht unterschreiben.“
Noelle nickte. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie die Staatsanwältin.
Zu ihrer eigenen Anwältin hatte Noelle nicht das geringste Vertrauen. Bis auf ihre boshafte Aufforderung, dass Noelle ihre Geschichte erzählen sollte, hatte sie kein Wort gesagt.
„Ich begleite Sie aufs Revier. Wegen der Körperverletzung kann ich Ihnen die Zelle nicht ersparen, aber ich verspreche, dass Sie Montagmittag wieder auf freiem Fuß sind. Sie müssen Ihren Mann wegen häuslicher Gewalt und schwerer Misshandlung anzeigen. Haben Sie Zeugen für seine Übergriffe?“
Noelle schüttelte den Kopf. Er hatte akribisch darauf geachtet, sie nie im Gesicht zu verletzen. Deshalb hatten die Nachbarn auch nie etwas mitbekommen. Soziale Kontakte hatte sie sowieso nicht. Kurz nach ihrer Hochzeit hatte sie mit ihrer Arbeit aufhören müssen. Noelle hörte noch heute das neidische Geschnatter ihrer Kolleginnen: „Einen Mann, der mich auf Händen trägt, sodass ich nicht mehr arbeiten gehen muss, wünsche ich mir auch.“ Was für ein Hohn! Es war ihm nur darum gegangen, sie besser kontrollieren zu können.
Simon lief unruhig in der Galerie auf und ab. Jesse tat gut daran, ihn in diesem Zustand nicht anzusprechen, doch er spürte seinen fragenden Blick im Nacken. Genervt holte er sein Handy aus der Tasche.
„Monice, ich bin’s, Simon. Ich werde es morgen nicht schaffen.“
„Du klingst angespannt“, sagte Monice am anderen Ende der Leitung. „Was ist passiert?“
„Eine Privatangelegenheit. Dennoch möchte ich den Auftrag. Kannst du mir ein Modell des Gebäudes schicken?“
„Natürlich! Dessen ungeachtet sollten wir vor Ort über die Aufteilung der Bilder sprechen.“
„Das verstehe ich, Monice. Im Moment kann ich hier nicht weg. Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß.“
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, mir geht es gut. Ich melde mich.“
Simon klappte das Handy zu und starrte die Bürotür an. „Was dauert denn da so lange?“
„Sie sind erst seit zwanzig Minuten drin“, entgegnete Jesse. „Beruhige dich.“
Simon strich sich mit den Händen über den Schädel. Eine Geste, die er in den vergangenen Minuten ständig wiederholt hatte. Eigentlich war er ein geduldiger Mensch, doch diese Warterei zerrte an seinen Nerven.
„Ist sie die Ursache für deine Rastlosigkeit?“, fragte Jesse plötzlich.
Irritiert sah Simon ihn an. Dann lächelte er. „Du siehst zu viel, Kleiner.“
„Hör endlich auf, mich Kleiner zu nennen. Ich bin nur neun Jahre jünger als du und nicht dein Sohn.“
Die Frotzeleien taten Simon gut. Er grinste breit. „Mein Sohn? Gott bewahre. Eher mein kleiner Bruder.“
„Tut gut, dich lächeln zu sehen“, sagte Jesse.
„Ja! Und trotzdem dauert mir das zu lange.“
„Lass ihr Zeit.“
Simon sah Jesse eine Weile an. „Danke, dass du mich nicht ausquetschst, was mit Noelle passiert ist.“
„Du wirst es mir sagen, wenn du es für richtig hältst. Ich werde Damian mal anrufen, dass es später wird.“
Simon wirbelte herum, als die Bürotür aufging. Cassy schloss sie hinter sich und kam
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