Noelles Demut
Lebenswillen nicht verloren haben.“
Dieser Satz verwirrte Noelle für einen Augenblick. Das hatte doch rein gar nichts mit ihrer Bitte zu tun.
„Was haben Sie erlebt?“, fragte sie mitfühlend. Etwas musste ihn tief erschüttert haben, wenn ein Mann wie er einer völlig Fremden half, nur weil er ihre blauen Flecken gesehen hatte.
„Es waren Ihre Augen“, sagte er sanft.
„Meine Augen?“
„Als ich Sie im Krankenhaus gesehen habe, waren ihre Augen unendlich traurig.“
Noelle hatte auf einmal das Bedürfnis, ihn in die Arme zu nehmen. Dieser bullige, harte Mann wirkte plötzlich verletzlich auf sie. Bevor sie sich regen konnte, hörte sie die Tür aufgehen. Noelle holte tief Luft.
Er nickte jemandem zu, der hinter ihr stand, und sagte: „Ich lasse euch mal allein.“
„Hat sie schon einen Anwalt?“, erklang eine harte, autoritäre Frauenstimme.
„Ich rufe Cassy an“, hörte sie Mr. Baker sagen und dann fiel die Tür des Büros hinter ihr ins Schloss. Noelle zuckte leicht zusammen und knetete ihre kalten Hände. Ohne Mr. Baker fühlte sie sich allein und schutzlos.
Noelle war überrascht, als eine kleine, drahtige Frau an ihrer Seite auftauchte. Sie reichte ihr die Hand und sah Noelle aufmunternd an.
„Mein Name ist Ann Marie Beauchamp, Staatsanwältin und für Ihren Fall zuständig. Wollen wir uns setzen?“
„Noelle Wingham … Bishop.“
Der Händedruck der Staatsanwältin war kraftvoll. Sie setzten sich an einen der Schreibtische, und sie holte ein Diktiergerät aus ihrer Tasche. Ein paar Sekunden ruhte ihr Blick auf Noelle, bevor sie lächelte. „Sie haben Simon ganz schön aus der Bahn geworfen.“
„Wen?“
„Simon Baker. Hat er sich nicht vorgestellt?“
Noelle schüttelte den Kopf. Simon! Ein schöner Name, so sanft.
„Wieso sind Sie für den Fall zuständig? Ich meine, ich lebe in Boston.“
„Sie wurden aber in New York wegen eines Verkehrsdeliktes angezeigt. Die Anhörung wird deshalb hier stattfinden.“
Noelle schluckte krampfhaft die Tränen hinunter.
„Keine Angst. Lucian Green wird die Anzeige nach der Anhörung zurückziehen. Es ging nur darum, die Zuständigkeit hierzubehalten.“
„Muss ich ins Gefängnis?“
„So weit sind wir noch nicht. Tom Bishop hat Sie wegen Diebstahls und Körperverletzung angezeigt. Simon hat mir von Ihren Verletzungen erzählt. Lassen Sie mich Ihre Version der Geschichte hören.“
Noelle senkte den Kopf. Würden die Demütigungen je ein Ende nehmen? Unsicher spielte sie mit ihren Fingern. Dann fasste sie sich ein Herz, öffnete die Knöpfe ihres Blazers und ließ ihn über ihre Schultern gleiten. Spitz stachen ihre Schlüsselbeine hervor. Ihre blaugrünen Arme musste sie nicht kommentieren. Die Staatsanwältin sog bei ihrem Anblick erbost die Luft ein. „Wie lange geht das schon so?“
„Fast zwei Jahre. Ich hatte wirklich Angst, diesmal würde er zu weit gehen. Er hatte dieses irre Funkeln in den Augen. In der Nacht gab es einen Stromausfall. Deshalb hat der Wecker nicht geklingelt. Ich konnte nichts dafür. Und wenn er einfach gegangen wäre, hätte er es noch pünktlich zur Arbeit geschafft. Was kann ich dafür, wenn der Strom ausfällt?“
„Wie ist es zu der Körperverletzung gekommen?“
Die Tür schwang auf.
Noelle sprang erschrocken vom Stuhl und stand einer rothaarigen Frau gegenüber, die sie kritisch musterte.
„Sagen Sie nichts, bevor ich nicht über den Sachverhalt Bescheid weiß.“
„Cassandra!“, sagte die Staatsanwältin kühl, und ihr Blick hatte jegliche Freundlichkeit verloren.
„Setz dich und mach kein Theater. Wir stehen alle auf derselben Seite.“ Die Staatsanwältin wandte sich wieder Noelle zu. „Bitte erzählen Sie weiter.“
Noelle setzte sich und sah zwischen den beiden Frauen hin und her. Diese Cassandra setzte sich neben sie und starrte auf ihre geschundenen Arme. Noelle fühlte sich unter ihrem Blick nicht wohl. Wenn das ihre Anwältin sein sollte, hatte sie kein gutes Gefühl bei der Sache.
„Ich bin Cassandra Addyngton. Simon hat mich beauftragt, Sie zu vertreten.“
„Ich kann mir keinen Anwalt leisten“, flüsterte Noelle.
Ohne Noelles Einwand zu berücksichtigen, fuhr Ms. Addyngton fort: „Erklär mir den Sachverhalt, Frau Staatsanwältin.“
Während diese sprach, beobachtete Noelle ihre Verteidigerin. Sie schien kaum zuzuhören. Geschäftig blätterte sie in einem Terminkalender. Als die Staatsanwältin ihre Erläuterungen beendet hatte, sah Ms. Addyngton Noelle
Weitere Kostenlose Bücher