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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sagt sie mit Behaglichkeit. Dann wird ihr Blick klar, ein Schreck glimmt in ihren Augen auf. Sie erinnert sich, und die Hoffnung, alles nur geträumt zu haben, zerfällt.
    «Wir haben –» Sie fährt auf, sieht sich im Zimmer um. Der zerbrochene Spiegel, das offene Fenster, durch das Straßenlärm dringt. Dass sie nackt ist, stört sie nicht. Sie war so lange so schrecklich verletzlich, so wund, dass diese Nacktheit ein Triumph dagegen ist.
    «Sie sind verschwunden.»
    Sie wirft dir einen halb entsetzten, halb erleichterten Blick zu. Genau weißt du auch nicht, ob du entsetzt oder erleichtert bist über das, was geschehen ist.
    Du drückst ihre Hand. «Wir sollten gehen. Vielleicht hat doch jemand die Schüsse gehört.»
    «Warum hast du mich schlafen lassen?»
    Du antwortest nicht darauf, stehst nur auf und holst ihre Kleider aus dem Bad, die inzwischen wieder trocken sind. Genauso gut könnte sie fragen, warum du sie liebst: Die Frage beinhaltet bereits die Antwort.
    Sie zieht sich an, du nimmst die wenigen Habseligkeiten, die ihr dabeihabt, deine Brieftasche, den Koffer voll STYX , die Pistole. Du hast keine Ahnung, wie voll das Magazin noch ist, wie viele Kugeln Amoke dir für deinen Auftrag mitgegeben hat, jedenfalls sind es drei weniger als zu Beginn.
    Ihr verlasst das Hotel, ohne auszuchecken, immerhin habt ihr auch nicht eingecheckt. Noir geht, unbemerkt vom gelangweilten Rezeptionsleiter, hinter den Tresen und legt den Zimmerschlüssel neben das Telefon.
    Du bist inzwischen schon nach draußen gegangen. Im Vergleich zu ihr hast du das zweifelhafte Talent, Misstrauen zu erregen.
    Die Straße hat vier Spuren und ist hier unten noch hässlicher und lauter als vom Zimmer aus. Im lichtlosen Oktobermorgen gefriert dein Atem in der Luft. Wenigstens regnet es nicht mehr.
    Noir kommt nach draußen. Du legst einen Arm um sie, und ihr geht los, ohne noch einen Blick auf den schwarzen Maserati zu werfen, den ihr gestern Nacht am Straßenrand geparkt habt. Zwei Strafzettel klemmen an der Windschutzscheibe. Ihr müsst euch nicht darauf verständigen, den Wagen hierzulassen; ihr denkt dasselbe und wisst es. Nur einen Moment fragst du dich, was passiert, wenn der Wagen abgeschleppt wird und man herausfindet, auf wen er zugelassen ist. Zweifelhaft, ob die Polizei so auf Jean Orin aufmerksam wird. Der Wagen war sicher von Anfang an gestohlen.
    Deine Geliebte schmiegt sich an dich ( an mich ), während du Richtung Bahnhof gehst. Deine Geliebte … meine Geliebte ist Wasser, sie ist ein geschmolzener Schneestern auf meiner Zunge, ein Salztropfen in meinem Auge, ein Strom durch mein Herz. Sie ist Wasser, das mich umgibt und trennt vom Rest der Welt. Sie ist Wasser, das geweint wurde, und Wasser, das Feuer gelöscht hat, und Wasser, in dem zehn Milliarden Menschen ertrunken sind, und Wasser, in dem die Kommenden heranreifen, bevor sie geboren werden. Aber niemand sieht sie, und ich muss verhindern, dass sie aufhört zu fließen und verdampft, denn dann sterbe ich wieder und diesmal vielleicht für immer.

[zur Inhaltsübersicht]
4 .
    I n der Stunde zwischen Nacht und Morgen wirkte die Gegend um Ninos Wohnung beinahe idyllisch. Die Leuchtreklamen der Spielkasinos waren erloschen, und abgesehen von ein paar Verkäufern, die die Obststände vor ihren Supermärkten aufbauten, war kaum jemand zu sehen. Frauen mit Kopftüchern putzten die Schaufenster der Imbissbuden. Als er die Haustür aufsperrte, trat ein älterer Herr aus dem Bordell nebenan und verschwand mit leisen Schritten im Dämmer einer Seitengasse.
    Vor mehr als zehn Jahren waren Katjuscha und er überstürzt hierhergezogen, in den zweiten Stock eines Hauses, das nur aus drei Wohnungen bestand und zwischen den klotzigen Gebäuden ringsum wie ein zusammengedrückter Marshmallow wirkte. Er war damals davon ausgegangen, nicht besonders lange zu bleiben, da Katjuscha bisher so viele Wohnungswechsel gehabt hatte wie Beziehungen. Doch anders als erwartet blieb sie bis zu seinem achtzehnten Geburtstag hier, und er war ihr dafür unendlich dankbar. Nicht alle von Katjuschas Geliebten hatten sich als angenehme Mitbewohnerinnen erwiesen, ganz zu schweigen von angenehmen Mutterersätzen.
    Erst als er volljährig geworden war, hatte sie dem Drängen ihrer damaligen Freundin nachgegeben und war ausgezogen. Vier Jahre hatte er die Wohnung mit wechselnden Untermietern geteilt, wobei Katjuscha fast täglich zu Besuch kam, um dafür zu sorgen, dass seine Küchenschränke vegetarisch und

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