Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
seine Affären nicht unbemerkt blieben. Vor einem Jahr schließlich war die längste Beziehung in Katjuschas Leben in die Brüche gegangen. Sie kehrte zu Nino zurück, und obwohl sie ihm das Leben nicht immer leicht machte, gab es niemanden, mit dem er lieber zusammengewohnt hätte.
    So leise wie möglich schloss er die Wohnungstür auf, stellte seine Sneakers in der winzigen Diele ab und schlich in die Küche. Er trank ein Glas Leitungswasser. Noch herrschte eine kribbelnde Stille. In einer Stunde würde der Verkehr einsetzen, dann hörte man den Lärm der Autos selbst bei geschlossenen Fenstern.
    Wie zum Teufel kam jemand wie Monsieur Samedi eigentlich an lebende Hühner? Wie viele Leute wussten von den Opferritualen, die er abhielt, ohne etwas dagegen zu unternehmen?
    Er zog die Schublade der Küchenanrichte auf. Neben seinen Medikamenten bewahrte Katjuscha darin homöopathische Mittel gegen diverse Leiden von Schnupfen bis Schwermut auf, Kaugummis und einen Verlobungsring, der seit ihrer Trennung von Simone sein einsames Dasein zwischen Psychopharmaka und Taschentüchern fristete. Eine Weile spielte er mit dem Ring herum. Er passte ihm nicht einmal auf den kleinen Finger. Anders als Katjuscha hatte er nie eine Beziehung gehabt, die über zwei Monate und Körperlichkeiten hinausging – irgendwie gelang es ihm nicht, längerfristig Begeisterung für jemanden zu entwickeln. Früher hatte er es auf die Mädchen geschoben, deren beste und zugleich schlechteste Eigenschaft immer die gewesen war, sich wegen einer Fehleinschätzung seines Wesens in ihn zu verlieben. Inzwischen machte er die Medikamente dafür verantwortlich. Sie legten sich wie Watte zwischen ihn und andere Menschen und dämpften alle Gefühle. Er drückte eine Tablette aus der Packung. Jeden Tag diese kleinen Dinger, mal stärker, mal schwächer dosiert, mal die weißen, mal rosafarbene, seit knapp fünf Jahren. Nur damit der Vorfall sich nicht wiederholte. Dabei hatte man ihn völlig falsch verstanden. Er hatte nicht vorgehabt zu sterben. Schon gar nicht wegen Katjuschas Auszug, er war ja dafür gewesen, dass sie und Simone sich endlich eine gemeinsame Wohnung nahmen. Er hatte es getan, weil er wusste, dass er
eben nicht
mit neunzehn sterben würde. Er hatte lediglich versucht zu beweisen, dass er nicht verrückt war, dass er sich nicht einbildete, den Tod zu sehen. Aber welcher Arzt wollte schon begreifen, dass sein gescheiterter Selbstmord nicht belegte, dass er krank, sondern gesund war? Schließlich war sein Wissen über den Tod unerklärlich, aber es gab viele Erklärungen dafür, warum er Halluzinationen haben könnte. Selbst Katjuscha glaubte lieber an eine milde Form der Schizophrenie als an etwas, das der menschliche Verstand schlichtweg nicht erfassen konnte. Er verübelte es ihr nicht. Dass es Dinge gab, die sich jeder Logik entzogen, machte auch ihm Angst. Er hätte ihre Existenz geleugnet wie jeder normale Mensch, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre. Darum hatte er alles geschluckt, was die Ärzte ihm verordneten … fast alles jedenfalls. Einmal hatte er seine Dosis eigenmächtig halbiert, um die Nebenwirkungen zu reduzieren, und war sofort für einen Kurzurlaub wieder in der Klinik gelandet. Daraus hatte er gelernt. Man durfte keine halben Sachen machen. Ganz oder gar nicht. Angesichts seines bevorstehenden Todes hatte er sich für
gar nicht
entschieden.
    Das war jetzt ungefähr fünf Wochen her, und er fühlte sich zum ersten Mal seit langem wieder am Leben.
    Er warf seine Tablette in den Ausguss und spülte kurz nach. Bald würde Katjuscha verstehen, dass es kein Heilmittel gegen das Schicksal gab, aber dann war es zu spät. Vier Tage noch bis zu seinem Geburtstag. Dann war er vierundzwanzig.
    Dann ist es so weit.
     
    Er wollte gerade ins Bett gehen, als nebenan eine Tür über Teppich schrammte. Die Augen zusammengekniffen, schob Katjuscha sich ihre Schlafbinde über die Stirn und tapste an Sofa, Bücherregalen und Fernseher vorbei in die Küche.
    «Morgen. Ich hab deinen Wecker gar nicht gehört.»
    «Er hat noch nicht geklingelt.» Sie öffnete ein Auge, um ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen.
    «Gut geschlafen?»
    «Schlafe noch.» Sie knipste den Wasserkocher an, nahm die unförmige Tontasse aus dem Schrank, die er irgendwann in der Schule getöpfert und ihr zu einem Geburtstag geschenkt hatte, und riss ein Küchenpapier ab. Sie legte das Küchenpapier in die Tasse und schüttete nach Augenmaß Espressopulver hinein,

Weitere Kostenlose Bücher