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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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der Tür stehen.
    «Du hast doch … nichts genommen, oder?»
    «Nein. Quatsch.»
    «Was ist das?» Sie deutete auf den Stich in seinem Zeigefinger.
    Hastig schloss er eine Faust. «Ich hab mich nur geschnitten.»
    «Nino …» Sie setzte jene unerträgliche Miene des Entsetzens und der Bekümmerung auf, mit der Frauen die schlimmsten Schuldgefühle hervorrufen konnten.
    «Meinst du, ich hab mir Heroin gespritzt oder was?» Ungeduldig entzog er ihr die Hand. «In den Zeigefinger! Sei nicht so paranoid. Heroin ist out. Wir rauchen doch heutzutage Crack.»
    «Du weißt, dass du auf keinen Fall …»
    «Ich
weiß

    «Ich mein ja bloß», murmelte sie und klopfte sich sorgenvoll mit dem Löffel gegen die Unterlippe.
    Er wollte aus der Küche gehen, beugte sich aber dann noch einmal zu ihr hinab und riss eindringlich die Augen auf. «Ich bin fünf Jahre älter, als du warst, als ich zu dir gekommen bin. Du warst damals erwachsen. Ich bin es auch.»
    «Ich hab mit dreiundzwanzig auch schon ein abgeschlossenes Studium gehabt, mein eigenes Geld verdient und die Verantwortung für ein Kind getragen. Ich war erwachsen. Du hättest ohne mich nicht mal den Job bei Pegelowa.»
    «Weißt du», erwiderte er, während er den Rückzug durchs Wohnzimmer antrat, «dafür hast du es immer noch nicht geschafft, zu heiraten und in einem Haus mit Hund und Garten den Nachwuchs auszubrüten. Dir läuft die Zeit davon, denk an deine Eierstöcke, die innere Uhr tickt. Ich sehe schon Falten!»
    «Hau ab!»
    «Na gut, dann dusch ich jetzt.»
    «Nein, wehe!»
    Sie rannten gleichzeitig los, doch er war schneller. Die Badezimmertür flog gegen Katjuschas Handflächen und knallte ins Schloss. Sie hämmerte dagegen, während er den Schlüssel umdrehte.
    «Mach auf! Ich muss zur Arbeit!»
    «Was sagst du? Ich kann dich nicht hören.»
    Nino machte das Wasser an. Draußen drückte Katjuscha hektisch den Lichtschalter und verwandelte das Bad in eine flimmernde Dunkelkammer. Schließlich stand Nino in kompletter Finsternis, den Rücken an die Tür gelehnt, eine Hand auf dem Wasserhahn.
    «Nino», jaulte sie. «Jetzt komm raus, ich muss
arbeiten

    «Ich verstehe dich nicht!»
    Er hörte, wie sie die Nase gegen die Tür drückte. «Ich nehm’s zurück. Du bist ja so erwachsen, und ich bin so kindisch.»
    Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür ein Stück. Durch die Ritze starrten sie sich an, bis er grinsen musste. Auch Katjuscha brachte ein halbwegs versöhnliches Mundzucken zustande. Dann machte sie das Licht an, schob sich ins Bad und ihn nach draußen.
    «Ich hab dich lieb», murmelte er.
    Sie boxte ihn in den Hintern, ehe sie absperrte. Er wartete in der Diele, bis er das Brausen der Dusche hörte. Dann knipste er das Licht aus und rannte, Katjuschas wütenden Aufschrei in den Ohren, in sein Zimmer.

[zur Inhaltsübersicht]
5 .
    S ehr früh und mit der Plötzlichkeit eines in eine Hauswand rasenden Fiats hatte er gelernt, dass das Erklärbare und das Unmögliche, das Gerechte und das Willkürliche, Vernunft und Wahnsinn nicht etwa Gegensätze waren, sondern Geschwister, die sich täuschend ähnlich sein konnten. Nichts auf der Welt hatte einen Sinn, einen größeren Zusammenhang oder überhaupt eine unumstößliche Wahrheit als Kern. Vermutlich konnte man das erst erkennen, wenn man den Tod seiner Eltern mit ansah und seinen eigenen kommen fühlte. Er bestritt die Rätselhaftigkeit des Lebens nicht mehr. Sie machte die Rätselhaftigkeit des Todes weniger erschreckend.
    Während er seine Zimmertür schloss, verging das Vergnügen übers ausgeknipste Badezimmerlicht. Die Geschwindigkeit, mit der ein Gefecht zwischen ihm und Katjuscha ausbrechen oder abflauen konnte, und die merkwürdigen emotionalen Wendungen, die ein Lächeln oder ein kindisches Schimpfwort bewirken mochten, erinnerten ihn manchmal an die Ehe von zwei manisch Depressiven. Für vieles, was er tat, schämte er sich gleich im nächsten Moment, und doch konnte er nur selten der Versuchung widerstehen, vor Katjuscha den Zwölfjährigen rauszulassen, der wie ein peinlicher Dämon in ihm lauerte. Er warf das T-Shirt in eine Ecke, stieg aus der Jeans und ließ sich aufs ungemachte Bett fallen.
    Es musste ein Trick gewesen sein, ein verdammt guter Trick. Aber
wie genau
hatte Monsieur Samedi das Glas auf dem Tisch bewegt? Es gab eine Millionen Antworten da draußen, aber keine für ihn. Weder ein Gott noch irgendein Geisterbeschwörer konnten ihm sagen, warum.
    Warum ich weiß,

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