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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Herd und beobachtete den Wasserkocher, als würde er unter Aufsicht schneller zu brodeln beginnen.
    Obwohl Katjuscha vierzehn Jahre älter war, glichen sie sich in Gestik und Mimik wie Zwillinge. Ihre Nase war lang und knochig wie seine, aber ohne Höcker, und ihre Haare, die sie nach einem drastischen Kurzhaarschnitt Anfang zwanzig wieder bis zu den Schultern hatte wachsen lassen, waren zwar viel dunkler, aber genauso gewellt. Ihre Ähnlichkeit verdankten sie nicht zuletzt der Treue, die ihr Vater seinem weiblichen Schönheitsideal gehalten hatte: Wenn man alte Fotos von Sandra und Lucia verglich, hätten ihre Mütter Schwestern sein können, die eine brünett, die andere blond.
    Als das Wasser kochte, übergoss Katjuscha damit das Espressopulver, nahm das durchweichte Küchenpapier wie einen Beutel zusammen und ließ den Kaffee in die Tasse tropfen. Dann schüttete sie Sojamilch über das dampfende Gebräu und kippte sich den halben Tasseninhalt auf einmal in den Mund. Mit vollen Backen ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, streckte die nackten Füße aus und gab ein morgentypisches Geräusch von sich, halb Schlucken, halb Brummen.
    «Wo warst du diesmal?»
    «Eine Art Privatparty.»
    «Dass dir das nicht mal langweilig wird. Ist doch immer dasselbe.»
    Er setzte ein Lächeln auf. «Apropos
dasselbe
. Wie war dein Dinner mit Simone? Hast du dich bis spät in die Nacht mit ihr
gelangweilt

    «Das war kein Dinner.»
    «Ach, ihr habt das Abendessen gleich übersprungen.»
    «Sie hat mich nur von Mama abgeholt. Sie hat sich übrigens nach dir erkundigt.»
    «Simone oder Sandra?»
    «Sandra. Sie fragt, ob du endlich eine Freundin hast.»
    «Damit ich ausziehe und dich allein lasse.»
    «Ich hab ihr gesagt, dass ich allmählich glaube, du wärst schwul.»
    Sie grinsten sich an. Katjuschas Mutter hatte ihr nie verziehen, dass sie, statt einen Schwiegersohn und Enkelkinder zu beschaffen, Frauen mochte und Nino großgezogen hatte. Eine Weile hatte Sandra die Hoffnung geäußert, er könne ihr einen Ersatz-Enkel bescheren, aber nach den Sonderbarkeiten, die er inzwischen an den Tag legte, traute sie auch ihm eine Familiengründung nicht mehr so recht zu.
    «Wie geht es Sandra sonst?»
    Katjuscha zuckte die Achseln. «Sie spielt Badminton mit ihren Freundinnen, hat immer noch keinen Mieter fürs Obergeschoss gefunden, den sie nicht für einen Perversling hält, und schwärmt von den jungen Familien, die in der Nachbarschaft eingezogen sind. Ich hoffe, sie kidnappt bald eins der Kinder, dann ist Ruhe.»
    «Und Simone?»
    Sie trank den letzten Schluck Kaffee und musterte die dunklen Krümel am Tassenboden. «Normal.»
    «Hat sie jemand Neues?»
    «Keine Ahnung.»
    «Hast du ihr von der Bikerbraut erzählt?»
    Sie warf ihm einen tödlichen Blick zu. «Nur weil sie ein Motorrad hat, ist sie noch keine Bikerbraut.»
    «O.k. Weiß Simone von deiner Lederfetischistin?»
    «Charlotte arbeitet an einer Dissertation, die zufällig ein ähnliches Thema hat wie meine, und wir sind nur befreundet.» Sie stand auf, holte zwei Becher Sojajoghurt aus dem Kühlschrank und stellte einen davon unsanft vor ihn hin. Er begann mit einem Löffel darin zu rühren, ohne die Absicht zu haben, das gelbliche Zeug zu essen.
    «Aber wenn sie dir einen kleinen Ausflug auf dem Motorrad vorschlagen würde, natürlich nur zur Bibliothek, wärst du nicht abgeneigt.»
    «Halt die Klappe. Musst du nicht zur Arbeit?»
    «Pegelowa hat mir heute frei gegeben.»
    Katjuscha nuckelte nachdenklich an einem Löffel Joghurt. Sie so zu beobachten, bei ihren kleinen, wohlvertrauten Kaninchen-Bewegungen, hatte immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Die Zeit schien sich wie ein Akkordeon zusammenzuziehen, und alle Veränderungen, alle Ereignisse und Umbrüche falteten sich ins Unsichtbare zusammen – er war wieder fünf, war elf und siebzehn auf einmal, weil er damals wie heute Katjuscha ansah, die immer dieselbe blieb: seine Schwester, die ein Bein auf den Stuhl gezogen hatte, das struppige Haar zurückschüttelte und ihre Zähne gegen den Löffel klackern ließ, während sie den Joghurt an ihren Gaumen saugte.
    «Mist mu micht mühe?», nuschelte sie, den Löffel noch im Mund.
    «Doch, ich geh gleich ins Bett.» Er kannte ihre Fangfragen. Die Medikamente bewirkten auch, dass er schlafen konnte. Wenn er nächtelang wachblieb, wurde sie immer misstrauisch. Er stand auf. «Viel Spaß im Museum.»
    «Nino?»
    Er blieb in

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