Noir
dass ich mit vierundzwanzig sterben werde.
Warum ich mit vierundzwanzig sterbe.
Warum ich.
Er ließ den Blick durch sein Zimmer wandern, vor Vertrautheit mit den Dingen längst blind für sie. Die Wände hatten er und Katjuscha vor vielen Jahren dunkelblau gestrichen, inzwischen waren sie fast komplett mit Zeichnungen verhängt. Die Werke aus verschiedenen Entwicklungsphasen hingen kreuz und quer durcheinander; ein plump geratener weiblicher Körper, den er zu Papier gebracht hatte, als er von nackten Frauen noch Jahre entfernt gewesen war, neben aktuellen Skizzen von Schädeln und ein paar besseren Schriftzügen aus seiner Graffitizeit. Seine allerersten Bilder, die er mit zwei oder drei gezeichnet hatte – Menschen, die nur aus runden Bäuchen und runden Köpfen und Strichgliedern bestanden –, teilten sich die Wände mit den Landschaftsstudien, die er an der Uni angefertigt hatte, den hastigen Porträts von U-Bahn-Fahrern, deren Zermürbung und Apathie ohne deren Wissen festgehalten worden waren, und den Originalen von Cartoons und Sketchen, die für ein lausiges Honorar in kleineren Zeitschriften erschienen waren. Neben seinem Schrank lehnten auch ein paar Ölbilder aus seiner Studienzeit, aber mit Farben hatte er nie viel anfangen können. Er fühlte sich zu Hause in der geheimnisvollen Schlichtheit von Schwarz und Weiß, die so viel mehr zuließ als Farben – jedenfalls hatte er es immer so empfunden. Aber er hasste es, über Kunst, vor allem die eigene, zu philosophieren, und das war einer der Gründe gewesen, weshalb er die Uni verlassen hatte. Seine Bilder dienten weder dem Zweck, etwas über die Welt auszusagen, noch diese zu verändern. Sie mussten existieren, weil er existierte. Ohne WARUM , genauso wie er selbst.
Diese Einstellung erwies sich für gute Noten nicht gerade als förderlich, noch weniger bei potenziellen Käufern. Schließlich sollte Kunst ein Spiegelbild des Lebens sein, und wer gab schon gerne zu, dass ebenjenes bedeutungslos war, im besten Falle Schmuck für einen leeren Raum? Bilder wurden gekauft, weil sie eine Antwort auf das WARUM gaben, an die jemand glauben wollte.
Bis zur fünften Klasse hatte Katjuscha ihn einmal wöchentlich zu einer graulockigen, Kakteen sammelnden Therapeutin geschickt, um den Verlust seiner Eltern aufzuarbeiten. Dort musste er Bilder malen und erklären, warum er die Sonne schwarz gemacht hatte, schwarz wie ein schwarzes Loch im Himmel, und wer die gesichtslosen Einzeller waren, die er anstelle eines Selbstporträts zeichnete. Vielleicht war das der Grund für seine heutige Abneigung gegen bedeutungsmotivierte Kunst.
Er schloss die Augen, obwohl er wusste, dass er zu unruhig war, um jetzt einzuschlafen. Überhaupt war er sehr unruhig in letzter Zeit, hatte schon länger nicht mehr ernsthaft gezeichnet, nur rasche Skizzen, nur blasse, ungeduldige Andeutungen der Bilder, die zu Papier zu bringen ihm sinnlos vorkam.
Irgendwann hörte er Katjuschas Schlüsselbund klirren, dann schlug die Tür zu. Er war allein.
Diese Erkenntnis rief immer ein Gefühl des Erstickens in ihm wach; es war der Phantomschmerz einer längst abgelegten Panik, die er als Kind empfunden hatte, wenn Katjuscha ihn verließ. Er hatte oft starr vor Grauen im Bett gelegen, dem Rauschen der Autos draußen zugehört und sich vorgestellt, dass sie nun in einer dieser Maschinen saß, ihr verletzlicher Körper zwischen Stahl, brennendem Benzin und Fensterscheiben. Wie und wann Katjuscha sterben würde, hatte er nie sehen können. Falls er doch je ein Bild davon gehabt hatte, war es längst von Sorgen und Hoffnungen verfälscht worden, sodass ihre Zukunft jetzt nur noch ein nebliges Minenfeld voller Möglichkeiten war. Die Ungewissheit nagte so sehr an ihm, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, wie normale Leute damit umgingen.
Draußen wurde der Verkehr lauter. Er zog sich das Kissen übers Gesicht. Irgendwas hatte er vergessen, etwas Wichtiges – er spürte es genau. Die Auflösung von Monsieur Samedis Zaubertrick war offensichtlich und zum Greifen nahe, aber er kam nicht mehr darauf. Was, was hatte er vergessen?
Eine Weile wälzte er sich von einer Seite auf die andere, dann gab er es auf, schleppte sich aus dem Bett in die Küche und warf den Wasserkocher an, um sich einen von Katjuschas Schlaftees zu machen. Während er den Tee ziehen ließ, aß er die einzigen sojafreien, sofort verzehrfertigen Lebensmittel, die er fand: kalte Kidneybohnen aus der Dose und einen
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