Noir
Käsetoast.
Vielleicht war die Frage, die ihn am meisten beschäftigte, gar nicht, wie Monsieur Samedi das Glas in Bewegung gesetzt hatte, sondern was er damit bezweckte. Verdiente er mit den Séancen mehr als mit Drogen? War Geld tatsächlich die Motivation? War das den Aufwand wert?
Hinter den Fenstern erwachte die Stadt im diesigen Tageslicht. Die Küche wirkte wie gepudert mit einem dämmrigen Grauton, der keiner Uhrzeit zuzuordnen war; es hätte genauso gut Nachmittag sein können, oder der Tag nach der Apokalypse, wo Hell und Dunkel eins geworden waren. Als er auf den Käsetoast in seiner Hand blickte, kam ihm dieses schaumstoffweiche Etwas plötzlich furchtbar trostlos vor. Es hatte kaum Inhalt, kaum Geschmack, war schnell gemacht und schnell gegessen. Er schluckte. Der Toast verkörperte sein Leben.
Als er das Kitzeln von Tränen hinter den Augen spürte, schob er sich den Rest in den Mund und verzog sich mit dem Tee wieder in sein Zimmer. Er war übermüdet. Mit dieser Erklärung ließ sich die hereinbrechende Schwermut fast entkräften. Er durfte sich selbst nicht so ernst nehmen, es half ja alles nichts – er trank den Tee auf ex und legte sich wieder ins Bett.
Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie im Grunde alles ganz in Ordnung war. Er würde sterben. Er war nur Teil eines unendlich fließenden Stromes von Gefühlen, Gedanken und wiederkehrenden Erinnerungen, aus dem jeder sein kurzes Dasein schöpfte und wieder abgab … jede Seele …
So fest er konnte, versuchte er an seine Seele zu glauben. Aber es gelang ihm nicht.
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6 .
D ie Seele: Das ist die Unsterblichkeit in uns. Das ist unsere Verbindung zu Gott.»
«Gerd, muss das jetzt sein?»
«Wo ist die Seele, Mama?»
«Die ist da drinnen, in deinem Herzen.»
«Die Seele ist nicht im Herzen! Mensch, was erzählst du ihm denn? Die Seele ist überall in dir, aber sie ist unsichtbar.»
«Wäre es möglich, das Gespräch zu vertagen? Oder was machen wir hier? – Entschuldigung, hallo?»
Nino, der mit dem Entpacken und Einsortieren zehnfarbiger Aquarellsets beschäftigt war und nur mit halbem Ohr gelauscht hatte, hob den Kopf. Im Gang vor ihm standen ein Mann mit beginnender Glatze, an dessen Hand ein Siebenjähriger lümmelte, und eine Frau mit Kurzhaarschnitt und Zornesfalte. Lehrerin, vielleicht für Erdkunde und Sport, an einem hübschen Gymnasium in gehobener Wohngegend.
«Ja, kann ich Ihnen helfen?» Er erhob sich, das Verkäuferlächeln sprungbereit auf dem Gesicht.
«Ich hasse meinen Mann und würde gerne mit Ihnen schlafen», sagten die Augen der Frau. Ihr Mund sagte: «Wir suchen Malfarben für unseren Sohn. Er malt schon sehr gerne mit Wasserfarben, deshalb wollen wir ihn jetzt mit richtigen Farben vertraut machen. Und ein paar Leinwände brauchen wir dazu.»
«Ein komplettes Einsteigerset. Können wir gerne zusammenstellen. Dann folgen Sie mir mal …»
Während er die Familie zu den passenden Regalen lotste und ihnen Plakatfarben, Pinsel, Papier und Leinwände andrehte, beobachtete er die Frau und hatte das Gefühl, sie besonders klar lesen zu können. Denn das war das Problem –
ihr Mann
hat irgendwie aufgehört, gut für sie zu riechen. Nach Manuels Geburt haben sie sich noch begehrt, die Geburt hat daran nichts geändert, aber dann, irgendwie … Die einst sinnliche Fleischigkeit seiner Lippen hat jetzt, wenn er sie in der Öffentlichkeit demonstrativ auf ihren Mund drückt, etwas Übelkeiterregendes an sich, das sie sonderbarerweise an den Mercedes ihres Vaters erinnert … als sie ein Kind war, rochen die Ledersitze so intensiv nach totem Tier und Benzin, dass sie sich bei jedem längeren Ausflug übergab. Natürlich war es undenkbar auszusprechen, dass sie das Auto und seinen Geruch hasste, immerhin war es ein Mercedes, und sie war nur ein Kind … Schon damals war sie hypersensibel für Gerüche gewesen. Der Duft von Holz, von Erde, von sonnenwarmem Gras, den sie in den geheimen Winkeln seines Körpers erkundet hat wie ein Steinzeitmensch die Rauschwirkung verschiedener Kräuter, scheint nun von einem Regen verfälscht, der Schimmelsporen und Pilze gedeihen lässt. Sie kann ihn nicht mehr riechen. Und sie fürchtet, dass es ihm genauso geht, nur dass es ihm egal ist, weil er die Liebe nicht so braucht wie sie. Vielleicht ist er alt geworden, die Zeit geht so schnell vorbei, nicht nur, wenn man glücklich ist … Vielleicht ist das die eigentliche Angst, dass sie alt geworden
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