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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ihn aufrecht, als würde ihn eine Hand dort halten, eine kräftige, aber formlose Hand, gemacht aus sprudelndem Wasser. Die anderen schienen von der Antwort nicht schockiert zu sein, immerhin wusste keiner von ihnen, dass das sein Name war.
    «Bist du ein Toter?», fragte Julia zögerlich.
    Nino starrte sie an. Er wagte nicht, zum Glas hinabzublicken. Doch er spürte, wohin es seinen Finger zog.

    «Wann bist du gestorben?», fragte sie weiter.
    Das Glas glitt zu den Zahlen hinab.

    «Am vierundzwanzigsten?», fragte Julia.
    «Wo bist du?», hörte Nino sich fragen.

    Philip stieß ein Lachen aus. «Der hat Sinn für Humor.»
    «Was …» Nino schluckte. «Was kommt nach dem Tod?»
    Das Glas kreiste um das Symbol. Einmal, zweimal, als dächte es nach. Dann glitt es, mit abrupten Pausen dazwischen, zu den Buchstaben hinauf.

    «Es gibt ein Jenseits? In dem die Toten leben?»
    Das Glas raste beinahe von Buchstabe zu Buchstabe.

    Julia öffnete den Mund zu einem Flüstern: «Gibt es die Wiedergeburt?»

    Auf dem R blieb das Glas wackelnd stehen, doch es
wackelte
. Egal welche unbewussten Muskelzuckungen in ihren Fingern sein mochten, so ein Wackeln konnte keiner von ihnen erzeugen, weder unbewusst noch absichtlich.
    «Wo ist man nach dem Tod?», fragte Nino.

    «Gott …», hauchte Itsi. Sein ausgestreckter Arm schlackerte, doch er presste den Finger so fest auf das Glas, dass sein Nagel weiß anlief. Hilflos suchte er die Blicke der anderen, doch sie waren genauso ratlos wie er.
    Julia verzerrte das Gesicht. «Ich will STYX !»
    «Reißt euch zusammen.» Nino wusste nicht, woher er seine Ruhe nahm. Innerlich war er wie gelähmt. «Es ist noch niemand von einem 4 -cl-Glas getötet worden. Und von Toten erst recht nicht.»
    Das Glas erstarrte unter ihren Fingern. Unschuldig, als hätte es sich nie bewegt, hockte es vor dem R.
    Nino fuhr sich über die Lippen, versuchte die anderen zu vergessen und konzentrierte sich auf das Glas. «Wann werde ich sterben?» Er fragte so leise, dass ihn hoffentlich niemand gehört hatte. Niemand außer dem, der sich als er ausgab.
    «Es bewegt sich wieder», hauchte Julia.
    Das Glas glitt zu den Zahlen hinab.

    Nino presste die Augen zu. «Wieso?» Es war fast mehr ein Vorwurf als eine Frage.

    «Noir?», wiederholte Itsi.
    «
Noir
 – das, das ist französisch», sagte Julia.
    «
Schwarz
. Wieso schwarz?» Philip blickte in die Runde, doch es war natürlich das Glas, das ihm antwortete:

    Als das Glas diesmal stehenblieb, zitterte es nur noch, weil sie alle zitterten.
    Philip schluckte. «Gut. Ich finde, wir hören jetzt auf. Nehmt noch nicht die Finger weg, wir müssen –»
    «Ich hab noch eine Frage», sagte Nino. «Werde ich heute, morgen, innerhalb der nächsten vierzehn Tage sterben?»
    Das Glas begann holprig im Kreis zu fahren.
    «Sterbe ich heute oder morgen?»
    «Lass das.» Julia starrte ihn an. «Wieso fragst du so was?»

    Er spürte das Blut in seinen Schläfen hämmern.
    «Ja oder Nein?»

    Als das Glas diesmal stehenblieb, wurde ihm bewusst, dass er seit Beginn der Antwort nicht mehr geatmet hatte, und zog scharf die Luft ein.
No.
Hieß das in irgendeiner Sprache Ja? Ihm fielen ein Dutzend Sprachen ein, in denen
No
Nein hieß. Nein. Ein inneres Schütteln durchlief ihn.
    «Wir entlassen dich», sagte Philip zum Glas. «Wir zählen jetzt von zehn bis null, und dann bist du aus diesem Kreis entlassen, und der Kreis ist aufgelöst.»
    Das Glas zog langsame Schleifen über das blutverschmierte Papier, langsam, langsam, wie ein eingesperrtes Raubtier. Nino spürte das Kribbeln im Nacken deutlicher denn je.
    Sie begannen zu zählen. Bei fünf hörte das Glas auf, sich zu bewegen. Als sie null erreicht hatten, sahen sie sich schweigend an.
    Das Glas war reglos. Eine merkwürdige Leere breitete sich in Nino aus, eine Art Kälte. Als stünde er plötzlich allein in einer dämmernden Steinwüste.
    «Gut», sagte Philip heiser. Dann nahm er den Finger vom Glas. Die anderen ließen es so schnell los, als würde es glühen. Ihr Blut war daran zu dunklen Krusten getrocknet, und jetzt spürten sie wieder den ziependen Schmerz ihrer Schnitte.
    Julia legte sich die Hände über den Mund und begann zu kichern. Philip nahm das STYX vom Tisch, schob das Glas beiseite und schüttete einen ganzen Haufen bläulich glitzerndes Pulver auf das Papier. «Es hat funktioniert», murmelte er dabei wie zu sich selbst. «Es hat echt funktioniert.»
    «Ich fühl mich so … kalt», sagte Itsi.

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