Noir
meinen Blick fast gewalttätig ins dunkle Zentrum eindringen.
Sie fahren uns nach Paris. Sie wollen nach Paris.
Der Mann leckt sich über die Lippen. Ich fühle die Waffe im Hosenbund. So ginge es auch.
Der Mann schnipst seine Kippe aus dem Fenster, stottert etwas Unverständliches und fährt los. Er macht den Zähler an und wieder aus.
Paris, murmelt er. Paris, ach so. Da hab ich viele Erinnerungen dran. Paris. Bedeutet Millionen Menschen irgendwas. Mir bedeutet’s auch was. Da hab ich eine Freundin gehabt. Ach, Freundin? Kann man schon so sagen. Kleine Kolumbianerin, hat in einem Club getanzt. Ist schwanger geworden. Ich wusste nie, ob von mir. Na ja, sie hat einmal behauptet, es wär meins, aber woher will man das wissen. Ich weiß nicht, ob sie in Paris geblieben ist. Ich hab sie nie besucht. Der Junge wächst ohne Vater auf. Wie ich. Wie sich die Dinge wiederholen.
Der Mann redet ohne Unterbrechung, mal laut und wütend, mal so leise und nuschelnd, dass man nur ein paar Worte versteht. Noir legt sich mit dem Kopf auf meinen Schoß, zieht die Beine an und beginnt wach zu träumen. Auch ich schließe die Augen. Nur schlafen darf ich nicht. Ich muss mich auf den Mann konzentrieren. Er darf nicht aus seiner Trance erwachen.
Gleichzeitig sehe ich wie Spiegelungen auf einem tiefen Brunnen die wiedergewonnenen Erinnerungen, die Noir sortiert und zusammenfügt.
Ich beginne abwechselnd zu schwitzen und vor Kälte zu zittern. Das STYX füllt mich von den Fußspitzen bis in die letzten Hirnverästelungen mit wattigem Strom. Unser Fahrer brabbelt noch immer vor sich hin. Ich kann nicht unterscheiden, ob ich die Lebensgeschichte verstehe, die er in dieser fremden Sprache erzählt, oder ob ich alles, was ich über ihn weiß, aus dem Teich seines Unbewussten schöpfe. Die Arten meiner Wahrnehmung verschmelzen.
Auf halber Strecke müssen wir tanken. Unser Fahrer wirkt verwirrt, als er aussteigen soll. Dann verlässt er den Wagen und stapft mechanisch zur Autobahn zurück. Ich laufe ihm hinterher, halte ihn an den Schultern fest und beschwöre ihn, weiter zu träumen. Erst als ich eine Zigarette aus der Schachtel in seiner Brusttasche ziehe und sie für ihn anstecke, blinzeln seine Augen mich an, als würde ich hinter Rauch und Nebel verblassen. Langsam versinkt er wieder in Trance. Ich führe die Zigarette an seinen Mund und erinnere ihn daran, ein- und auszuatmen. Er tankt artig und bezahlt.
Die Weiterfahrt verläuft in Schweigen. Gelegentlich wirft er mir einen Blick über den Rückspiegel zu wie ein Kind, das die Bestätigung seiner Eltern braucht bei dem, was es tut. Ich nicke, und seine Zweifel lösen sich in nichts auf. Hin und wieder erinnere ich ihn daran, eine Zigarette zu rauchen, weil es ihn offenbar beruhigt.
Dann erreichen wir die äußeren Stadtringe von Paris.
Noir, bist du wach? Ich will dich nicht wecken, aber du musst jetzt bei mir sein.
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14 .
N ach der vierten oder fünften Wiederholung schienen die Zahlen gar keinen Sinn mehr zu haben. Ihr Murmeln wurde zu einem fremdsprachigen Gebet. Allmählich gelang es Nino, sich in den Rhythmus fallen zu lassen. Was auch immer seinen Kopf sonst mit tausend Gedanken am Rasen hielt, war jetzt mit den Zahlen beschäftigt, so wie ein Kleinkind beim Anblick einer Kerzenflamme aufhört zu nörgeln.
Zeeehneeeeunaaachtsiiieeebenseechsfüüünfviiiieeer…
Das ziehende Brennen in seinem Finger verwandelte sich. Vorher hatte er Schmerz empfunden, jetzt war da nur noch ein Pulsieren, ein
Fühlen
, ganz ohne Wertung, weder gut noch schlecht.
Zweiiieiiiinszeeehnneeun…
Ein heißkaltes Rieseln zog seine Wirbelsäule hinauf, sammelte sich in seinem Nacken. Es war ein Gefühl, das sich kaum greifen ließ; er wagte nicht, sich darauf zu konzentrieren, denn dann würde es mit Sicherheit zerfallen.
Aaachtsieeebenseeechs …
Als sich das Glas in Bewegung setzte, merkte er es nicht gleich. Ihm fiel auf, dass Itsi neben ihm verstummte, dann auch Julia und Philip. Das Glas begann stockende Kreise über das Papier zu ziehen und malte dabei Spuren aus Blut.
Itsi gab ein Geräusch von sich, als hätte er seine eigene Zunge verschluckt. Julia erschauderte leicht.
Zart, fast schwebend zog das Glas seine winzigen Kreise um das Symbol.
«Hallo», sagte Philip, und sein sonst so bestimmter Ton war dünn geworden. «Bist du uns wohlgesinnt?»
«Wer bist du?»
Nino fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Allein das wirbelnde Gefühl in seinem Nacken hielt
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