Noir
Flohmarktmöbel standen im Wohnzimmer, eine gigantische Musikanlage und ein Doppelbett, über und über mit Decken und Kissen bedeckt. Darauf thronte Julia im Schneidersitz und zog am Schlauch einer Wasserpfeife. Sie lächelte, als sie Nino sah.
«Wer kommt denn da?» Sie beugte sich vor, um ihn zu umarmen. Philip öffnete mit seinem Feuerzeug eine Bierflasche für jeden. Als sie anstoßen wollten, kam Itsi herein.
«Hi, Nino, lang nicht gesehen.» Er nahm sich ein Bier und setzte sich in ihre Runde. «Also, jetzt geht’s los, oder?»
Philip drehte die Lautstärke der Musik so weit runter, dass nur noch ein fließendes, elektrisches Murmeln in den Winkeln des Zimmers blieb, und nahm ein Blatt Papier und einen Atlas von dem kleinen Beistelltisch neben dem Bett. Behutsam legte er das Blatt auf den Atlas in ihrer Mitte. Nino sah, dass das Alphabet und alle Zahlen von Null bis Neun darauf geschrieben waren. Und ein kompliziertes Zeichen, ähnlich dem, das River letztes Mal von seinem Zettel kopiert hatte.
«Wo hast du das Zeichen her?», fragte Nino.
«Von Monsieur Samedi.» Philip holte ein Schnapsglas vom Tisch und stellte es auf das Zeichen.
«Wie viel hast du dafür gezahlt?»
Er zuckte die Schultern. «Ich krieg Freundschaftspreise.»
Freundschaftspreise. Das hieß, dass er für Monsieur Samedi vertickte. Andere Einnahmequellen hatte Philip schließlich nicht, außer ein paar Jobs als Aushilfsbarkeeper. Ob Julia es aufregend fand, dass er ein Dealer war? Praktisch fand sie es auf jeden Fall.
Philip zog ein kleines Knäuel aus der Hosentasche und wollte es auf dem Papier öffnen.
«Was ist das?»
Philip sah blinzelnd zu ihm auf, als er sein Handgelenk festhielt. « STYX , was sonst.»
Nino schüttelte den Kopf. «Wenn es funktioniert, dann auch ohne das Zeug.»
«Nur um es zu intensivieren.»
«Du wirst es auch nüchtern mitkriegen, wenn sich ein Glas vor deiner Nase bewegt. Ich will, dass wir alle klar sind.»
Philip atmete tief durch. «Okay. Eine Runde ohne.»
Er ließ sein Handgelenk los, damit Philip die Drogen auf den Tisch legen konnte.
Itsi, der das Ganze schweigend beobachtet hatte, nahm jetzt die Wasserpfeife. «Will noch jemand, oder soll ich die wegstellen?»
«Stell erst mal weg», befahl Philip. Dann trank er noch einen Schluck Bier, ehe er auch die Flasche beiseiteschob und eine Rasierklinge vom Tisch nahm. Er schnitt sich in den Finger, drückte ihn auf das Glas und gab die Klinge an Nino weiter.
«Ich nehm lieber mein Taschenmesser.»
«Komm mal aus den Achtzigern raus, wir haben kein Aids!», blaffte Philip.
Nino warf ihm einen vielsagenden Blick zu, dann gab er die Klinge Julia und zückte sein Taschenmesser.
«Das gibt’s doch nicht.» Philip fluchte, aber das war ihm egal. Er stach sich mit dem Taschenmesser in die Fingerkuppe und presste sie auf das Glas.
«Spätestens jetzt hast du meine Krankheiten», sagte Philip.
Das mochte stimmen, war sogar wahrscheinlich. Aber er ekelte sich einfach davor, dieselbe Klinge wie die anderen zu benutzen.
Julia schnitt sich mit einem leisen Stöhnen in den Finger, der, wie Nino jetzt sah, schon von ein paar frischen Stichen gezeichnet war. Da Itsi sie eingehend beobachtete, spielte er vermutlich zum ersten Mal Gläserrücken. Er zögerte, als sie ihm die Klinge hinhielt, aber dann machte er den Schnitt. Jetzt waren alle Finger auf dem Glas. Blut rann daran herab, fraß sich ins Weiß des Papiers.
«Also, von zehn bis null, richtig?» Julia schloss die Augen. Sie begannen sie zu zählen.
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JETZT
Der Zug nach Paris ist maßlos überfüllt. Unmöglich, mit Noir mehrere Stunden dichtgedrängt zwischen Fremden auszuharren. Wir gehen hinaus zu den Taxis. Ein Fahrer, der rauchend am Steuer sitzt, während sich seine Kollegen vor ihren Autos unterhalten, scheint mir der passende Mann zu sein. Ich öffne die Tür und lasse Noir einsteigen, bevor ich mich neben sie setze.
Wir müssen fahren, sehr weit fahren, nach Paris, sage ich dem Mann. Mein Französisch ist akzentfrei. Ich verstehe die Worte nicht, die aus meinem Mund kommen, und doch weiß ich, was sie bedeuten. Ich bin mit allen Menschen verbunden. Ihre Sprachen lassen sich überstreifen wie Handschuhe. Ich denke daran, dass auch Jean Orin mit mir gesprochen hat, ohne Deutsch zu verstehen. Im Nachhinein finde ich das befremdlich.
Nach Paris?, wiederholt der Fahrer. Sein Atem riecht nach tabakverschleimten Lungen und Wurst. Die Augen sind verschlossen. Ich lasse
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