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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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distanzierte Zuneigung für alle Menschen, für ihre offensichtlichen und verborgenen Sehnsüchte, für ihre Ängste, ihre Zwänge und Freuden, ihre Größe im Kleinen und ihre verständlichen Kleinlichkeiten. Es war, als würde er Kunstwerke betrachten, die nicht unbedingt seinem Geschmack entsprachen, aber eben alle Kunstwerke waren.
    Da war der dickliche Aquarellmaler, der so hoffnungslos einsam war, weil er mit Verbissenheit und Neid auf andere zuging und nicht begriff, weshalb er trotz seiner Talente nur Ablehnung erfuhr. Oder die alte Dame, die ihm eine halbe Stunde lang von ihrer Hüftoperation erzählte. Oder die Fünfzehnjährige, die Opfer eines Verbrechens werden würde. Nino ahnte, wie viel Leid dieses fremde Mädchen erwartete, und er konnte nichts dagegen tun. Das war das Schlimmste überhaupt, schlimmer noch als die Vergangenheiten, die, halb verdrängt, halb zu spinnenbeinigen Tumoren herangewachsen, in anderen lauerten. Gegen das Vergangene konnte er nichts mehr machen, aber zu wissen, dass etwas Schreckliches passieren würde, setzte ihn unter Druck, egal wie sehr er sich einredete, dass er weder zu Hilfe verpflichtet noch befähigt war.
    Er versuchte ein bisschen mit dem Mädchen zu scherzen, als sie an der Kasse stand, und machte ihr ein Kompliment. Sie rauschte mit glühenden Wangen aus dem Laden. Das war alles, was er tun konnte. Aber vielleicht war es gar nicht so wenig.
    Gegen Nachmittag ließ die Wirkung des STYX nach. Sein Kopf begann aufzuquellen wie Brei. Während er Kunden bei ihren Einkäufen beriet, überlappten sich ihre Geschichten mit denen ihrer Vorgänger; alles dehnte sich und zersplitterte wie die Reflexionen in einem Spiegelkabinett.
    Um halb sechs erklärte er Pegelowa unter dem Vorwand, einen Arzttermin zu haben, dass er gehen müsste. Natürlich glaubte sie ihm kein Wort. Ohne ihm in die Augen zu sehen, sagte sie auf Wiedersehen. Unter ihrer gleichgültigen Miene lag Wut, aber unter der Wut schlummerte Enttäuschung, sie wusste es ja, auf niemanden konnte man sich verlassen, das wusste sie schon seit 1968 , als ihr Vater die Familie mit nichts als Schulden sitzengelassen hatte. Gute Menschen, schlechte Menschen, was machte es schon für einen Unterschied, am Ende war jeder in sich selbst gefangen, war nur für sich selbst zuständig …
    Nino hätte Olga Pegelowa gerne zum Abschied umarmt, diesen geballten Lebenstrieb von einer Frau, unter deren Goldschmuck und Geschäftssinn und fünfundzwanzig Kilo Naschsucht ein resigniertes Mädchen steckte, ein Paar Schlittschuhe in der Hand, am Straßenrand auf den Vater wartend, der nicht kommen würde, weil er in irgendeinem Hinterhaus die Haushaltskasse verspielte. Aber Nino umarmte sie nicht. Er wünschte jedoch, ein anderer, dem es zustand, würde es tun. Ihre kleinen Enkelinnen zum Beispiel. Aber Olga Pegelowa hatte Probleme mit deren Mutter, ihrer ältesten Tochter, weil …
    Nino verließ den Laden, bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, und spazierte zur U-Bahn. Es war immer noch ein schöner Tag, aber
er
hatte sich verändert, war erschöpft und durcheinander. Der Lärm des Verkehrs, der Geruch von Benzin, das Gewimmel der Leute überforderten ihn. Er konzentrierte sich auf seine Füße.
    Wie so oft schienen seine Füße besser zu wissen, wohin er wollte, als sein Kopf. Statt zur U-Bahn zu laufen, trugen sie ihn die Straße hinunter, über mehrere Kreuzungen, bis er den Kanal erreichte, der an den großen Touristenattraktionen der Stadt, den Museen und dem Dom vorbeiführte. Er lehnte sich an die Steinbrüstung und blickte ins Wasser hinab. Die Wellen waren zu klein und uneins, um vom Himmel mehr als Scherben zu spiegeln. Der Duft von Kaffee wehte vorbei. Er hatte Hunger, aber am Ufer gab es nur Restaurants, die er sich nicht leisten konnte. Und selbst wenn, wollte er sich nicht an einen Tisch setzen, ganz alleine zwischen lauter Touristen, und auf seine Bestellung warten.
    Das Handy begann in seiner Hosentasche zu vibrieren. Es war Philip.
    «Hey.»
    «Nino. Ähmmm. Ich hab gerade meinen Kontaktmann angerufen. Wegen dem Zettel für morgen.»
    «Sehr gut.»
    «Ja. Er will dich sehen.»
    «Wer?»
    «Monsieur Samedi. Du sollst mitkommen. Wenn ich den Zettel abhole. Ich geb dir noch mal Bescheid, wann.»
    «… okay.»
    «Bis dann.»

[zur Inhaltsübersicht]
15 .
    W as er über Monsieur Samedi wusste, war nicht gerade eine Menge. Aber es war genug, um ihm aus dem Weg gehen zu wollen.
    Als er zur U-Bahn schlenderte,

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