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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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interessant wirkte. Dass er schmächtig und glupschäugig wie ein Kobold war und ausgestattet mit jener Raffgier nach sexuellem Erfolg, die nur unattraktiven Männern anhaftete, würde Julia wahrscheinlich erst in zwei, drei Monaten stören. Aber das war ohnehin die maximale Dauer, die ein Mädchen wie sie bei einem Mann blieb. Dann siegte die Angst, etwas zu verpassen.
    Du kannst alles fragen und rausfinden. Checkst du das nicht? Alles.
    Waren sie nur so versessen auf das Gläserrücken, weil es kurz davor war, ein Trend zu werden? Würden sie anfangen, darüber zu lästern, wenn alle es machten, wie über Musik, sobald sie im Mainstream angekommen war? Morgen werden alle die zwanziger Jahre und den Spiritismus nachspielen, darum machen wir es schon heute. Morgen kommt, aber wenn morgen da ist, lächeln wir nur noch darüber. Wir wissen, was in der Zukunft sein wird.
    Alles rausfinden. Checkst du das nicht?
    Hatte ihm wirklich seine Mutter aus dem Jenseits gesagt, dass sie ihn vermisste? Das ging nicht in seinen Kopf hinein.
    Aber es geht mir auch nicht aus dem Kopf.
    Er stand auf, nahm sein Handy vom Schreibtisch und strich nachdenklich mit dem Daumen über das dunkle Display. River hatte doch allen Grund, denselben Trick erneut anzuwenden, den er bei Nino angewendet hatte, um das Glas zu bewegen. Unvorstellbar, dass River aufgab und zu Julia sagte: «Ich kann die übersinnlichen Kräfte nicht rufen. Aber Nino, der kann es.»
    Nein, ausgeschlossen. Aber Philip hatte ja erwähnt, dass es Monsieur Samedi gewesen war, der behauptete, Nino sei die treibende Kraft hinter dem bewegten Glas gewesen.
    Ich hab das Glas nicht angeschoben, dachte er, aber ganz sicher war er jetzt nicht mehr. Beim Ouija waren es unbewusste Muskelzuckungen, die das Glas in Bewegung setzten und zu den Antworten führten, die man erhoffte, befürchtete oder auf irgendeine Art erwartete. Die Sache war bloß – er hatte nichts erwartet außer Stillstand und schon gar nicht irgendwas auf Italienisch. Er konnte doch gar kein Italienisch.
    Wirklich? Du hast es immerhin verstanden.
    Er hielt sich das Handy ans Ohr. Das Wartezeichen erschreckte ihn beinahe, doch er legte nicht auf.
    «Was gibt’s?» Philips Stimme platzte ihm wie eine Kaugummiblase ins Ohr. Im Hintergrund donnerte die Musik so laut, dass er das Telefon einen Moment weghielt, um sich zu sammeln.
    «Wollt ihr es noch machen? Ich kann doch kommen.»
    Er hörte, wie die Musik leiser gestellt wurde, dann Philips hüstelndes Ganovenlachen. «Perfekt. Bring Bier mit.»
    «Ja, du mich auch.»
    «Bist ein Schatz.»
    «Bis gleich.»
     
    So leise wie möglich schlich er aus der Wohnung. Katjuschas Zimmer war inzwischen dunkel, trotzdem zog er seine Schuhe erst im Hausflur an.
    Es war kälter geworden, seit er zuletzt an der frischen Luft gewesen war. Fröstelnd lief er zur Bushaltestelle und wartete auf den Doppeldecker. Um diese Uhrzeit war er fast leer, Nino stieg die schmale Treppe nach oben und setzte sich ganz vorne ans Fenster. Die Stadt glitt unter ihm fort wie ein Abziehbild, wie eine zweidimensionale optische Täuschung.
    Nachdem er ausgestiegen war, kaufte er bei einem Spätkauf ein Sechserpack. Auf einer nahegelegenen Wiese schliefen Penner, ansonsten schien der ganze Bezirk noch auf den Beinen, in der Nähe war eine Straße voller Clubs, die jede Nacht unzählige Feierlustige anzog.
    Philip wohnte in einer Straße nicht weit von den Clubs entfernt, in der die baufälligen Häuser mit Graffitis und Plakaten überzogen waren. Die Wohnung, die er mit Itsi teilte, war groß, mit stuckverzierten Decken und einem Ofen, der im Winter kaum die drei prächtigen Zimmer zu wärmen vermochte. Die Spülung des Klos funktionierte nur manchmal, sodass die letzten beiden Male, die Nino bei ihnen gewesen war, ein Wassereimer danebengestanden hatte, den man in die Schüssel kippen musste. Tatsächlich war das nichts, wofür Philip und Itsi sich schämten, sondern ein authentisches Detail ihres Lebensstils.
    Er drückte den Klingelknopf. Kurz darauf erklang das elektrische Surren, und die schwere Holztür ließ sich aufdrücken. Er lief durch den Hinterhof und die drei Stockwerke hoch, bis er die offene Wohnungstür erreichte. Philip lehnte im Eingang.
    «Komm rein.»
    Die Wände der Zimmer hatten Philip im Verlauf der Jahre als Leinwände gedient und waren über und über mit Kritzeleien, großflächigen Farbexperimenten und Fotokollagen überzogen. Nicht alles davon war schlecht.
    Schrille

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