Noir
«Ihr auch?»
«Ich fühl mich, als wär ich grad aus einer heißen Badewanne gestiegen», lachte Julia und befahl dann: «Zigarette!»
Itsi zog ein Päckchen aus seiner Hosentasche und reichte ihr eine.
«Wie. Krass.
Wie. Krass
.» Julia kicherte immer noch, die Hand mit der Zigarette erhoben, als würde sie sich mit einer wichtigen Erkenntnis melden.
«Es muss an dir liegen», sagte Philip langsam, während er das STYX mit einer Bankkarte zerdrückte und in Lines aufteilte. Nino wusste, dass er ihn meinte, obwohl sie sich nicht ansahen. «Was machst du anders als wir?»
«Keine Ahnung. Nichts.» Im Augenblick war ihm auch egal, warum es funktioniert hatte. Das Einzige, was ihn beschäftigte, war die Prophezeiung des Glases.
Nicht heute, nicht morgen.
Wieso hatte das Glas sich geweigert, ihm Auskunft über die nächsten zwei Wochen zu geben? War seine Zukunft so ungewiss?
Aber wenn er dem Glas glauben konnte, war er
jetzt
sicher. Dieses Jetzt würde sich noch über 48 Stunden erstrecken. Er nahm, ohne nachzudenken, den zusammengerollten Geldschein, als Philip gezogen hatte. Drogen, warum nicht? Sterben würde er nicht dran.
Nicht heute, nicht morgen.
Das STYX strahlte ihm wie brennende Schneeflocken durch den Schädel, entzündete die Raketen, die in den Startlöchern bereit steckten, und als er sich nach hinten auf die Matratze sinken ließ, war die Welt erfüllt von Feuerwerk, glitzerndem Glück, reiner, gläserner Gegenwart.
Sie spielten kurz darauf noch einmal auf demselben Papier. Doch Nino stellte kaum Fragen, denn das STYX stimmte ihn schweigsam, er war versunken in wortlose, zuckerwattige Wahrnehmungen. Die anderen redeten dafür sehr viel, allen voran Julia, die nicht genug über ihr Leben erfahren konnte. Anfangs fragte sie nur scheu, wo der Mann sei, den sie liebte – die Antwort lautete MARID , was als Madrid gedeutet werden konnte oder
married
, verheiratet. Und beides traf zu, wie sie eifrig erklärte, denn ihr erster Freund aus Schulzeiten arbeitete seit kurzem in Madrid und war seit über drei Jahren mit einer Engländerin zusammen – womöglich sogar verheiratet. Danach konnte Julia nichts mehr halten. Sie wollte wissen, wie viele heimliche Verehrer sie hatte – 5 , sagte das Glas –, ob sie auf einen von ihnen eingehen sollte – hier kam nur ein schwer zu deutendes WEH hervor –, ob die Gefühle, die sie für jemanden empfand, von der Person erwidert wurden – JA – und wie ihr künftiger Ehemann hieß – das Glas zog nur Kreise.
Obwohl die Antworten sie deutlich mitnahmen, lachte sie und zuckte die Schultern. «Fangfrage – ich will gar nicht heiraten! Ist doch voll unnötig heutzutage.»
Itsi und Philip fielen keine guten Fragen ein; im Vergleich zu Julia hatten sie größere Hemmungen, über ihre Herzensangelegenheiten zu sprechen. Also fragten sie, ob es Außerirdische gab ( JA ), welches Land die nächste Fußballweltmeisterschaft gewinnen würde ( AR ) und was ihnen sonst gerade in den Sinn kam. Schließlich gab das Glas nur noch ungenaue, dann gar keine verständlichen Antworten mehr. Sie mussten aufhören.
Gegen das merkwürdige Gefühl der Verlassenheit, das wieder einsetzte, wurde die Musik aufgedreht und noch mehr STYX gezogen. Philip versuchte Monsieur Samedis Theorien zu wiederholen, welche Kräfte das Glas bewegten, aber entweder wusste der Araber es selbst nicht so genau, oder Philip tat sich momentan mit seinem Gedächtnis schwer. Nino störte es nicht, überhaupt nicht. Er fand das Gespräch weder interessant noch nervig, alles geschah einfach, existierte für sich, ohne dass er sich darüber ein Urteil bilden musste.
Weil Julia, Itsi und Philip jeweils zwanzig Minuten am Stück redeten, bevor sie den Faden verloren, wurde es draußen bereits heller, als sie endlich eine Handvoll wichtiger Fragen aufgestellt hatten, die sie beim nächsten Anlauf dem Glas stellen wollten: ob jeder eine Seele habe, ob er ein Verstorbener sei und ob, wenn er die Zukunft kenne, die Zukunft dann bereits eingetroffen sei. Julia bestand darauf, zu fragen, ob böse Menschen nach dem Tod bestraft würden, obwohl Nino sie unsinnig fand. Noch einmal machten sie einen Schnitt in ihre Zeigefinger und zählten sich in eine Meditation hinunter.
Doch das Glas blieb reglos. Als sich auch nach einer halben Stunde nichts tat, gaben sie schließlich auf.
«Man kann dasselbe Symbol nicht immer wieder benutzen.» Philip zog ärgerlich das Papier aus ihrer Mitte. «Gerade jetzt,
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