Noir
wo wir wichtige Fragen haben. Ich muss bei Monsieur Samedi ein neues besorgen.»
«Wann?», fragte Nino. «Übermorgen? Ich will es übermorgen wieder machen.»
Philip nickte glücklich.
Er fühlte sich so leicht und unbeschwert, dass er den ganzen Weg nach Hause lief. Gegen fünf verließ er Philips und Itsis Wohnung und kam erst um kurz vor sechs an, aber das machte nichts. Dank des STYX war er kein bisschen müde und vollkommen klar im Kopf.
Leise sperrte er die Wohnungstür auf, aber als er sich in der Küche ein Glas Leitungswasser holte, kam Katjuscha.
«Wo warst du?»
Er trank das Glas in drei großen Schlucken leer. «Ich hab doch noch meine Freunde getroffen.»
Es war förmlich zu sehen, wie Katjuscha eins und eins zusammenzählte. «Warst du bei dieser Julia?»
Er nickte. Sie runzelte die Stirn, aber offenbar beruhigte es sie, dass er wenigstens in irgendeinem Bett geschlafen hatte.
«Und wieso kommst du so früh wieder?»
«Ich wollte nicht, dass du mitkriegst, dass ich weg war.»
«Witzig.»
Er lächelte. «Da dachte ich, ich hätte vom Profi gelernt. Offenbar brauch ich noch ein bisschen Übung in Sachen Reinschleichen.»
«Ich krieg das
immer
mit.»
Er gab ihr recht, obwohl es nicht stimmte. Langsam ließ sie sich auf einem Stuhl nieder und zog sich die Schlafbinde vom Kopf, während er den Wasserkocher anwarf und zwei Kaffeetassen präparierte.
«Ich werde heute schon früher zum Laden fahren», beschloss er. «Mal durchwischen und alles entstauben. Pegelowa ein bisschen mit meinem Eifer beeindrucken.»
«Hmm.»
Als er Katjuscha den fertigen Kaffee überreichte, schien sie halbwegs versöhnt. Schweigend saßen sie am Tisch und pusteten in ihre Tassen.
«Vergiss deine Tablette nicht», sagte sie nur.
Der Tag fühlte sich an wie ein Geschenk. Erfüllt von Dankbarkeit und Verwunderung wie ein Toter, dem man noch einen Urlaub auf der Welt gestattet hatte, lief er auf dem Weg zu Pegelowas Kunstwarenladen über belebte Straßen, kaufte sich am Imbissstand des U-Bahnhofs einen Schokoriegel und schenkte der Bettlerin daneben sein Restgeld. Ein strahlender Herbstmorgen ging über der Stadt auf. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann es zuletzt geregnet hatte, wirklich, dieses Jahr war das Wetter traumhaft. Aber es war kühler geworden. Eine gläserne Ahnung von Frost stand in der Luft. Die Bäume verteilten ihr Laub mit jedem Windstoß über Bürgersteige und Autos, als wüssten sie, dass der Tod nahte, und hätten beschlossen, ihn mit einem Fest zu empfangen. Während er die Blätter mit den Füßen aufwirbelte, musste er lächeln. Er hatte den Herbst in sich, auch er würde die Tage zelebrieren, die ihm noch blieben. Er würde die letzte Fröhlichkeit in sich sammeln und hinauswerfen und an das Unvermeidbare nicht mehr denken. Er hatte vielleicht keine Zukunft, aber er hatte noch die Gegenwart, war das nicht das einzig Wahre, das man besitzen konnte? Und er würde sie so bedeutsam machen, wie es nur ging.
Er schloss den Laden auf und machte sich daran, den Fußboden zu wischen. Zugegeben, nicht das Naheliegende, wenn man womöglich nur noch zwei Tage zu leben hatte, aber auch daran versuchte er nicht zu denken. Dank des STYX , das noch immer seine wohltuenden Hände um sein Bewusstsein geschlossen hielt, gelang es ihm diesmal auch.
Er wischte gerade die Regale aus, als seine Chefin in den Laden kam. Verwundert schob sie sich die Sonnenbrille hoch und starrte ihn an, als wüsste sie nicht, ob sie sich freuen oder einen Arzt rufen sollte.
«Morgen, Olga! Wie geht es Ihnen? Ich bin wieder gesund.»
Leute kamen herein, und er half ihnen zu finden, was sie brauchten. Einem Mann riet er, als Pegelowa gerade außer Hörweite war, auf zwei Tuben Ölfarben zu verzichten, da sie einfach selbst zu mischen waren. Einem anderen jungen Mann, der mit grimmigem Gesichtsausdruck hereinkam und nur ein Notizbuch kaufte, sagte er ganz unvermittelt, dass er sich nicht aus Trotz seinem Vater gegenüber weigern sollte, Architektur zu studieren.
«Aber woher – kennen wir uns?», fragte der junge Mann verwirrt.
«So oder so wirst du beim Theater ankommen. Architektur ist der erste Schritt.» Er zwinkerte und lächelte, und es war ihm völlig egal, ob der junge Mann ihn für verrückt hielt. Ein wenig verstört verließ er den Laden.
Nicht allen Kunden machte er eine solche Prophezeiung. Meistens war es gar nicht nötig, und er wollte niemanden grundlos bloßstellen. Doch er empfand eine
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