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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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es nur dieses Paar, und immerzu hörte ich: »Wo sind die Schuhe? Ich muss zum Abort. Es ist Zeit zu beten. Ich muss mich waschen.« Mama trug sie, wenn sie nach draußen ging; dann musste Burhaan warten, bis sie zurückkam und ihm die Schuhe gab, damit er sein Geschäft verrichten konnte. »Wer trägt gerade die Schuhe?«, hörte ich den ganzen Tag, vor allem, wenn die Gebetszeit nahte und jeder sich waschen wollte. Vier Leute teilten sich ein Paar Gummilatschen! Es waren billige Flip-Flops, die schon auseinander fielen. Der Steg zwischen den Zehen hatte sich gelöst, sie blieben gar nicht mehr richtig am Fuß, und die Sohle klaffte an der Spitze. Also wiederholte ich: »Lass uns zum Markt gehen und neue Schuhe kaufen – dann musst du nicht mehr so viel Zeit verschwenden, auf das richtige Paar Schuhe zu warten.«
    Raschid lächelte mich strahlend an. Seine weißen Zähne blitzten. »Zeit ist doch nichts zum Anfassen, Waris. Wie kann man sie da verschwenden?«
    »Na ja, mit dir zu reden könnte ein Beispiel für Zeitverschwendung sein«, neckte ich ihn. Er und Ragge begleiteten mich zum Straßenmarkt. Ragge wollte, dass ich ihm ein Paar schwarze Stiefel kaufte. Erstaunt blickte ich ihn an: »Was willst du denn damit? Die wären das Richtige für London, aber hier ist es doch viel zu heiß.« Aber mein Vetter hatte seine eigenen modischen Vorstellungen, also spendierte ich sie ihm. Außerdem kaufte ich zwei Paar Flip-Flops, Räucherstäbchen und Mörser und Stößel, um Gewürze zu zermahlen. Raschid gefielen die Schuhe auf dem Markt nicht; deshalb beschlossen wir, uns an einem anderen Tag noch einmal umzusehen. Allerdings gefiel ihm meine Sonnenbrille, und ich schenkte sie ihm. Sie würde seine Augen vor der Sonne schützen, wenn er die Herde meines Vaters hütete.
    An diesem Abend redete ich mit meinen Brüdern und der übrigen Familie ausführlich über Sippen und Stämme. Mein Vater gehört zu den Darod, dem Großstamm in Mittel- und Südsomalia. Ein Volk der Darod sind die Mijertein. Meine Familie lebt schon seit jeher in der Haud, einem Gebiet an der Grenze zu Äthiopien. Der Name meines Vaters lautet Dahee Dirie. Meine Mutter kommt aus einem anderen großen Stamm, den Howiye. Sie ist in Mogadischu aufgewachsen, das früher einmal als die Hauptstadt von Somalia galt. Seinerzeit hielt mein Vater um die Hand meiner Mutter an – und wurde abgewiesen. »Du bist Darod – ein wilder Mann. Wie willst du meine Tochter ernähren? Du gehörst nicht zu unserem Volk«, lautete der Bescheid der Familie meiner Mutter. Daraufhin liefen Mama und er davon, und meine Mutter hat es nie bereut. Inzwischen leben ihre Brüder und Schwestern über die ganze Welt verstreut. Nur sie hat sich für die Wüste entschieden.
    Es gibt vier große Stämme in Somalia. Dir, Darod, Issaq und Howiye. Die meisten Menschen in Somalia gehören zu einem dieser vier Großstämmen. Sie sind Moslems und sprechen Somali. Es gibt auch noch kleinere Stämme, die Rahanwayn und die Digil weit im Süden des Landes, in der Nähe von Kismayu. Die meisten Mitglieder von Vaters Familie sind Hirten, und erst in jüngster Zeit leben auch ein paar von ihnen in Städten. Weil Nomaden ständig umherziehen, ist der Stamm wichtiger als eine Adresse, die sich ja stets ändert. Europäer konnten das nie begreifen. Als sie die Grenzen für Somalia festlegten, siedelten sie viele Somalis in unterschiedlichen Ländern an. Die fünf Sterne auf der somalischen Fahne stehen für Somalia, Somaliland, Djibouti, Ogaden und die Somalis in Kenia. In meiner Kindheit spielten diese ganzen Stammesgeschichten kaum eine Rolle für mich. Ich war lediglich stolz darauf, eine Darod zu sein, weil es der furchtloseste und tapferste Stamm war. Der Spitzname für einen Darod lautet
La'Bah
, der Löwe.
    Jetzt, als Erwachsene, interessierte es mich mehr. Für meinen Vater und meine Brüder war es äußerst wichtig und hatte viel mit dem zu tun, was im Land vor sich ging. Siad Barre wollte zunächst das Stammestum abschaffen; aber dann provozierte er Stammeskämpfe, um von seinen Problemen abzulenken. Nachdem Siad Barre 1991 aus dem Land geflohen und seine Regierung gestürzt war, versuchten die einzelnen Stämme, an die Macht zu gelangen. Ihre Fehden verwandelten meine Heimat in ein Chaos. Ich fand das unerhört, und das sagte ich meinen Brüdern auch.
    »Somalia wird von den Stämmen zerstört«, erklärte ich ihnen.
    Burhaan erwiderte: »Darod ist der größte und stärkste Stamm in diesem

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