Nomadentochter
Leben eines Nomaden hinderlich ist. Es zählen nur deine Familie, deine Geschichten und die Tiere. Sie sind die Quelle des Lebens und der Brunnen der Freude. Ich fand meine Mutter wunderschön, weil sie sich so liebevoll um ihre Familie, Freunde und Tiere kümmerte. Und echte Schönheit zeigt sich nicht in einem Spiegel oder auf der Titelseite eines Magazins. Echte Schönheit ist die Art und Weise, wie man sein Leben führt.
Der Mann mag der Kopf des Hauses sein,
das Herz aber ist die Frau.
(Somalische Redensart)
10
Väter und Männer
Der nächste Tag war so schön, dass ich mich von Allah erneut gesegnet fühlte. Ein paar dünne Wolken segelten hoch am Himmel dahin, und die Frühe belebte und erfrischte. Im Morgengrauen hatte es ein paar Blitze gegeben, Vorboten des Regens. Von der großen Hitze der letzten Tage hatte er uns erlöst. Und meine Familie war zusammen! Ein Wunder! Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte: »Habe ich dir nicht gesagt, dass alles gut wird?« Mein Schutzengel Alter Mann sprach mit mir.
Mama schickte Mohammed und Raschid los, damit sie ein Zicklein fingen, weil sie uns ein Festmahl kochen wollte. Sie schlachteten eine kleine männliche Ziege, die sowieso keine Milch geben würde. Meine Mutter schnitt den Kopf ab, legte ihn in einen Korb, kratzte sorgfältig die Haut ab und entfernte die Augen. Dem Kopf eines Tieres werden besondere Kräfte zugeschrieben, um Augen und Gehirn zu heilen; während sie nun diese Medizin für meinen Vater zubereitete, betete meine Mutter die ganze Zeit. Sie besitzt nur einen Kochtopf, den sie jedoch für das Festessen brauchte; deshalb hatte sie kein Gefäß, in dem sie den Kopf kochen konnte. Also ging sie zum Müllhaufen und kam mit einer alten Dose zurück. »Mama!«, mahnte ich. »Du kannst doch nicht in einer alten Dose vom Müll kochen! Sie ist schmutzig und voller Keime. Was denkst du dir denn? Willst du Vater umbringen?«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte mich herausfordernd an. »Mir ist es wirklich egal, ob er stirbt. Er ist alt und nutzlos, also hat er hier nichts mehr verloren.«
»Mama, bitte, ich gehe zu den Nachbarn und borge uns einen Topf«, schlug ich vor.
»Nein, du hältst dich da raus«, knurrte sie und wedelte abwehrend mit der Hand. »Ich werde es so machen, wie ich es für richtig halte. Vertrau mir, dein Vater wird davon schon nicht sterben – er stirbt nie, dazu ist er viel zu gemein.« Ich hörte, wie mein Vater hinter der Hütte lachte, und natürlich wurde mit in demselben Moment auch klar, dass das kochende Wasser die Keime abtöten würde. »Kind, geh mir aus dem Weg! Ich werde den Kopf hier drin kochen, und er bekommt die Brühe«, verkündete sie. Die Dose war rostig, sie schrubbte sie mit Sand ab und spülte sie aus. Dann legte sie den Ziegenkopf hinein, gab Wasser und ein paar ihrer speziellen getrockneten Blätter, die sie in einem kleinen Korb aufbewahrte, dazu und stellte das Ganze aufs Feuer. Den ganzen Tag lang köchelte das Gebräu.
Anschließend zog meine Mutter der Ziege sorgfältig die Haut ab, um Stricke und Hocker daraus zu machen. Sie grub ein Loch, das groß genug war, um das Zicklein aufzunehmen und ein weiteres Feuer in Gang zu halten. Nhur und ich entfachten es mit großen Holzscheiten, und als es zu weiß glühender Asche heruntergebrannt war, schob meine Mutter sie auseinander, um das Fleisch hineinzulegen. Die Beine schnitt sie so an, dass sie eng am Körper lagen. Man kann eine Ziege mit allem Möglichen füllen, und heute gab meine Mutter Brot, Knoblauch, Zwiebeln, Tomaten, Reis und ihre speziellen Gewürze hinein. Sie und Nhur verschnürten den Braten und legten ihn auf die glühende Asche. Schon bald dampfte es, und ein wunderbarer Duft erfüllte die Luft. Mutter wusste ganz genau, wann sie ihn wenden musste, damit auch die andere Seite braun wurde. Dadurch wird das Fleisch außen knusprig. Meine Mutter hockte sich neben das Feuer und fächelte ihm Luft zu, um das Holz, das Nhur zusätzlich darauf gelegt hatte, zum Brennen zu bringen. Dann scheuchte sie alle in die Flucht. Ich war so hungrig, dass mich der Duft magisch anzog. »Bleib davon weg«, herrschte sie mich an. »Ich sage dir schon Bescheid, wenn es fertig ist. Ihr steht ja wie die Geier hier herum!«
Als wir es aus der Asche gruben, war das Fleisch so zart, dass es auseinander fiel und im Mund zerging, eine absolute Köstlichkeit. Das Gesicht meines Vaters war so geschwollen und tat so weh, dass er nicht kauen
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