Nomadentochter
weigerte sich jedoch und stellte sich taub, blieb einfach wartend hocken. Über eine Stunde saß er da, stolz und eigensinnig.
Ich beschloss, ein wenig zu schlafen, weil ich immer noch müde von der langen Reise war. Also legte ich ein paar Matten auf den Boden und streckte mich darauf aus; aber wirkliche Ruhe fand ich nicht, weil ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und immerzu Lärm war. Ich hörte, wie eine Frau mit meiner Mutter redete. Schließlich trat sie zu mir.
»Waris!«, begrüßte sie mich herzlich. »Wie geht es dir?«
Halb benommen richtete ich mich auf. Ich erkannte sie nicht und glaubte, sie sei einfach eine weitere Nachbarin.
»Waris, erinnerst du dich nicht an mich?« Sie legte den Kopf schräg.
»Es hat sich so viel verändert«, verteidigte ich mich. Mein Vater lachte. Nach näherer Betrachtung schätzte ich sie etwa so alt wie meine Mutter.
»Frag deinen Vater, wer ich bin«, sagte sie.
Er meinte zu ihr: »Wie geht es denn meinem Baby heute?« Und ich überlegte, welches Baby er wohl meinte.
»Ich hole ihn dir«, stellte sie in Aussicht.
Leise kichernd, lag mein Vater da, bis sie mit einem Baby im Arm wiederkam. »Gib mir meinen Sohn«, sagte mein Vater, und erst da erkannte ich sie als seine zweite Frau. Sie war stark gealtert, denn als er sie damals geheiratet hatte, waren sie und ich beinahe gleich alt gewesen.
Ich umarmte sie. »Als ich wegging, hattest du gerade ein Kind bekommen, und jetzt, nach all diesen Jahren, bekommst du immer noch welche.« Insgeheim betete ich darum, dass sie sich nicht daran erinnerte, wie wir sie kopfüber an den Baum gehängt hatten. Aber in den drei Tagen, die sie bei uns blieb, erwähnte sie den Vorfall mit keinem Wort. Sie hatte einen langen Weg mit dem Baby auf dem Rücken zurückgelegt, um zu uns zu gelangen. Die arme Frau befand sich in einer schlechten Verfassung – sie war hungrig und müde, und ihre Füße bluteten, da sie keine Schuhe hatte. So lernte ich einen Bruder kennen, von dem ich nichts gewusst habe. Ich habe einen Bruder, der fast vierzig ist, und einen neuen kleinen von mehreren Wochen.
Mein Vater ließ sich vernehmen: »Ohne Familie und Kinder macht das Leben keinen Sinn!«
Ich erwiderte: »Weißt du, Vater, es geht nicht darum, wie viele Kinder du hast. Viel wichtiger sind Stärke und Gesundheit, und dass die Familie zusammenhält.«
»Das brauchst du mir nicht zu erzählen«, begehrte er auf.
Als wir an diesem Abend am Feuer saßen, drehte sich die Unterhaltung um Männer. Burhaan berichtete mir, meine Schwägerin habe gefragt, warum ich nicht verheiratet sei.
Was sollte ich dazu sagen? »So einfach ist das nicht. Es geht nicht so wie bei einem deiner Tiere. Man kann es nicht einfach kaufen und wieder verkaufen, wenn man nicht mehr will.« Nhur warf mir einen verständnislosen Blick zu. Sie sind eben so aufgewachsen und wissen nur, dass man einem Mann gehorchen muss. Nhur und meine Mutter fragten, ob ich ein Kind hätte.
»Ja, ich habe einen wunderschönen kleinen Sohn«, berichtete ich stolz.
»Ähnelt er dir?«, erkundigte meine Mutter sich.
»In jeder Hinsicht«, versicherte ich ihr. Sie verdrehte die Augen gen Himmel, und obwohl sie nichts sagten, lachten alle, vor allem mein Vater. Kopfschüttelnd meinte meine Mutter: »Wenn er dir nachschlägt, dann wirst du noch einiges mit ihm erleben – aber du hast es nicht besser verdient!«
Nhur fragte: »Und wo ist sein Vater?«
»Ich habe ihn hinausgeworfen«, erklärte ich.
»Warum?«, riefen alle.
»Weil ich keine Verwendung für ihn in meinem Leben hatte – jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.« Darüber lachten sie wieder, aber es schockierte sie auch, dass ich ihn hinausgeworfen hatte. Asha wollte wissen: »Wie hast du das denn bewerkstelligt? Ich habe immer geglaubt, der Mann ist derjenige, der die Frau wegschickt.«
»In Amerika nicht«, erwiderte ich.
Meine Schwägerin hörte auf zu lachen und wurde plötzlich ernst. Sie sagte: »Wir sind schwach. Die Frauen in diesem Land würden das nicht schaffen.«
Jetzt setzte ich an zu einer Lektion: »Schwester, ich bin hier geboren. Genau wie du bin ich hier aufgewachsen und habe hier viele großartige Dinge gelernt, wie zum Beispiel Selbstvertrauen. Dazu kam noch mein Unabhängigkeitsgefühl. Ich sitze nicht da und warte ab, bis jemand etwas tut – sondern ich tue es selber. Das habe ich hier gelernt!« Mein Vater saß direkt neben mir, und auch meine Mutter gesellte sich zu uns. Wahrscheinlich wollte sie
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