Nooteboom, Cees
unzulänglich für die mögliche Antwort. Wir hätten nie von euch lassen dürfen, ihr brachtet uns in die Nähe von Gewitter, Liebe, Wasser, Tod, Wind, Feuer, den Dingen, unter denen wir leiden und von denen wir leben, Dingen, die wir begreifen. Von dem anderen begreifen wir nichts. Vor diesem Nichts sollten wir niederknien, aber wer kniet schon vor dem Nichts?
Hölderlin
E ine Karte von einem Freund. Darauf abgebildet ein Mann mit gesenktem Haupt und möglicherweise einem Lächeln. Wie es aussieht, eine Bleistiftzeichnung. Die Struktur des Papiers ist noch schwach zu erkennen, helle Fusseln, Fleckchen, Fäserchen. Die Rechte des Mannes ist nicht zu sehen, es scheint, als halte er etwas in der Linken. Winzigkleine Striche markieren die Nähte seiner Kleidung, eine Falte, den Kragen, vielleicht ein Stück eines Halstuchs. Alles ganz leicht, mit Ausnahme des Haars, das mit einem dickeren Bleistift gezeichnet zu sein scheint. Der Kopf ist geneigt, nachdenklich, als sei der Mann ganz still mitten in einem Raum stehengeblieben. Ich denke an Goethe und Schiller, die nicht wußten, was sie mit diesem scheuen und zugleich erregten Fremden anfangen sollten. In äußerst feinen Buchstaben steht mit der Hand geschrieben: »Von Schreiner und Rudolph in Eile gezeichnet am 27sten Jul. 23«. Warum so eilig, wenn der Mann, den sie zeichneten, doch so still stand? Er blickt auf etwas Unsichtbares am Boden, aber es wirkt so, als blicke er nach innen und sehe dort etwas, für das er keine Lösung weiß. Ähnlichkeit mit Hölderlin hat er nicht. Unsinn, natürlich gleicht er dem Hölderlin, den seine beiden Freunde an jenem Tag besuchten. Er ähnelt nur dem nicht, den ich für Hölderlin halte.
»Die Tage gehn vorbei mit sanfter Lüfte Rauschen«, hat mein Freund mit Bleistift dazugeschrieben. Wie kommt es, daß ich diese Zeilen jetzt anders lese, als wenn ich die Zeichnung nicht gesehen hätte?
Schleier
I ch bin kein richtiger Taucher, liebe es aber, unterhalb der durchsichtigen, sich bewegenden Decke zu hängen, als wäre ich irgendein ausgestorbenes, unbeholfenes Meerestier. Niemand hat Appetit auf mich, also lauert keine Gefahr, ich schwebe über dem Meeresboden, schaue durch meine primitive Unterwasserbrille in das sich verschiebende Silber der Oberfläche, das von unten so anders aussieht als von oben, wo dieselbe dünne Schicht plötzlich einem fächelnden weinschwarzen Vorhang gleicht. Dies ist das Reich der Stille, hier ist alles möglich. Wörter gibt es noch, allerdings ohne ihren Klang, Geister, die ausschließlich aus Sprache bestehen. Ich sehe Fische, die sich nicht über mich wundern, doch was mich am meisten fesselt, sind die Schleier, die von der Strömung hin und her bewegten Schleier ohne Braut, grün, gräulich, fein verzweigt. Tang, Algen, gezähnt, gespalten, silbern, zinnoberrot, Frauenhaar, Spinnweben, intime, verführerische Federn, Zauberfäden. Zuweilen erinnern ihre Namen an den Gott, an den ich schreibe, Posidonia oceanica , dann wieder sind es Fragmente von Liedern, die für ihn gesungen werden, Bryopsis plumosa , Caulerpa prolifera , Ulva lactuca , Namen von Frauen, die man gern kennen würde. Eines darf man nie tun, etwas aus seinem Reich nach oben bringen in die Welt, in die es nicht gehört. Dann ist der Bann gebrochen, Traumwesen verirrt in die falsche Dimension, die, in der wir beheimatet sind. Verloren steht man auf den Felsen, ein wieder Mensch gewordenes Meerestier, in der Hand nasse Pflanzen, bizarre Formen ohne Zauber, Metamorphose mißlungen.
Gemälde
B erlin, 30. Dezember 1936. Ein langer, magerer, noch junger Mann betrachtet intensiv ein Gemälde von Peter Paul Rubens im Kaiser Friedrich-Museum. Eigentlich mag er Rubens nicht, doch dieses Bild hat seinen Blick auf sich gezogen. Er notiert, es stelle Neptun und Amphitrite dar, »mit fabelhaften Tieren – Krokodil, Löwe, Tiger, Rhinozeros etc.«. Das Gemälde ist während des Krieges, der in diesen Tagen bereits drohend in der Berliner Luft hängt, als Beute verschwunden, geblieben ist nur eine Reproduktion in Schwarzweiß. Der junge Mann durchforscht das Bild mit seinem Blick. Der Gott sitzt, das rechte Bein locker über das linke geschlagen, mit einem Fuß im Wasser. Um das Krokodil ganz in der Nähe dieses Fußes kümmert er sich nicht, genausowenig um den Löwen und den Tiger, die einander aus gefährlich aufgerissenen Rachen angrollen, oder um die wollüstig über das Krokodil drapierte nackte Wassernymphe mit ihrem fülligen
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