Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
Vom Netzwerk:
dem Lappen aus, den Thönges mir entgegenhielt. Als ich das Tuch entgegennahm, berührten sich unsere Hände, beide rot von Maritas Blut.
    Ich hockte mich vor die Matratze und tauchte das Tuch in den Eimer. Dann fing ich an. Zuerst rieb hob ich Maritas Gewand erneut an und säuberte ihre Schenkel. Sie blickte starr an mir vorüber. Dann schob ich Marita sanft beiseite und begann, den Fleck auf der Matratze zu bearbeiten. Ich schrubbte und schrubbte. Ohne Seife war es nahezu aussichtslos. Immer wieder tunkte ich das Tuch in den Eimer und wusch es aus. Der Fleck wurde nur unwesentlich heller. Als das Wasser bereits hellrot war und ich wusste, dass ich nichts mehr ausrichten würde, tauchte ich meine Hände hinein. Das angetrocknete Blut zwischen meinen Fingern konnte ich entfernen, aber unter den Nägeln blieb ein roter Rand.
    Schließlich richtete ich mich auf und erklärte mit fester Stimme.
    « Ich habe es nun heilgemacht. Wenn du es noch sauberer haben willst, dann brauche ich Seife.»
    Thönges schien mich nicht gehört zu haben. Er trat an mir vorbei an die Heizung und fischte den Schlüssel aus der Hosentasche.
    « Nein,» rief ich. «Lass mich hierblieben. Ich … passe auf, dass es nicht wieder kaputt geht.»
    Thönges blieb stehen.
    « Wer nicht hören will, kommt ins Loch.»
    « Ja, das weiß ich. Es wird nicht wieder passieren.»
    Ich hielt die Luft an.
    Thönges starrte auf den kleinen Schlüssel in seiner Hand. Er ließ ihn wieder in der Hosentasche verschwinden und wandte sich ruckartig um. Einige Sekunden später knallte die Tür zu und der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Wir waren allein. Erst als Thönges den Raum verlassen hatte, bemerkte ich, wie stark ich zitterte.
    « Oh Gott! Es tut mir so leid. Es tut mir so leid. Oh Gott. Warum hilft uns denn niemand?»
    Die fremde Frau, die Marita hieß, weinte. Haltlos. Trostlos.
    Am liebsten hätte ich es ihr gleichgetan. Doch w ir durften jetzt nicht beide gleichzeitig zusammenbrechen. Ich wollte auch nur noch heulen und schreien. Aber dann – nein. Ich durfte das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Oliver. Hedda. Viola. Mutter. Und eines Tages, vielleicht, unser Kind.
    Ich musste mich zusammenreißen. Wenigstens eine von uns beiden musste klar im Kopf bleiben. Normalerweise war das keine Rolle, die mir auf natürliche Weise zufiel. Ich hatte mich noch nie für besonders mutig gehalten. Jetzt aber ging es nicht anders. Die andere Frau war schon viel länger in Thönges Gewalt. Ich hatte ja keine Ahnung, was sie möglicherweise schon erdulden musste. Also würde ich jetzt stark sein. Ich sah Olivers Gesicht vor mir. Nora, du kannst das. Ja, Oliver.
    « Marita, nicht. Es ist in Ordnung. Komm, hör auf zu weinen. Wir müssen jetzt zusammenhalten. Marita. Los, komm. Nein, warte, kannst du aufstehen? Wir drehen die Matratze um. Ja, genau. So, setz dich hin.»
    Ich ließ mich neben Marita auf der Matratze nieder. Diese Seite war in Ordnung. Schmutzig und fleckig von was auch immer, aber wenigstens trocken.
    Mit einem Finger versuchte ich, das Scheuern des Halsbandes an meiner Haut zu lindern. Aber ich bekam nicht einmal den kleinen Finger dazwischen. Ich ließ die Hand sinken. Alles roch noch immer nach Blut. Die Kette klirrte, als ich mich etwas bequemer hinzusetzen versuchte. Ich lehnte den Rücken an die Wand und streckte die Beine aus. Der eine Fuß war bloß, der andere steckte noch in der Socke, die vor wenigen Tagen noch neu und beige gewesen war. Ich zog sie aus und legte sie mit den Fetzen des anderen Strumpfes auf die Fensterbank über uns. Ich fürchtete, dass wir die Wolle noch brauchen würden. Dann schlüpfte ich barfuß wieder in meine Sneakers. Ich war froh, dass ich die Schuhe noch hatte.
    « Marita, erzähl mir von dir. Was ist passiert? Wie hat er … dich gefangen?»
    « Ich kann nicht … ich kann immer nur … oh nein, meine Kinder!»
    Marita schlug die Hände vor das Gesicht. Die Fingernägel waren abgekaut oder abgebrochen. Alles an Marita war schmutzig, Arme und Beine waren zudem von Kratzern übersät. Ob sie sich diese selbst beigebracht hatte, konnte ich nicht erkennen. Ich wollte es gar nicht wissen. Allein ihr Haar sah aus wie frisch gewaschen. Und es roch besser. Ich meinte, das gleiche Shampoo zu erkennen, das ich an Thönges gerochen hatte. Vielleicht war es auch nur gewöhnliche Seife. Auch wenn Marita nun das Gesicht vor mir verbarg, war ich mir sicher, dass sie älter als ich war. Nicht viel, ein paar Jahre. Und

Weitere Kostenlose Bücher