Nora Morgenroth: Der Hüter
dem Fahrrad gefahren. Die Jungs waren in der Schule und die Kleine im Kindergarten.»
« Wohin wolltest du?»
« Ich hatte kein bestimmtes Ziel. Bin einfach nur gefahren. In letzter Zeit, da war einfach so viel. Markus und ich, wir hatten uns oft gestritten. Nicht ernsthaft. Ich weiß nicht, mir ging alles so auf die Nerven. Oh Gott, wenn ich daran denke. Dauernd habe ich an den Kindern herumgemeckert. Auch an dem Morgen. Die Jungs haben getrödelt und Anna hat nur gequengelt. Wie konnte ich nur so dumm sein? Das letzte, was meine drei Süßen von ihrer Mutter gesehen haben, war eine schimpfende, böse Frau.»
« Ich bin sicher, du bist nicht böse gewesen. Was sie gesehen haben, war, dass ihre Mutter sehr erschöpft war. Du hast nur die Nerven verloren. Und außerdem ist es nicht das Letzte, was sie von dir sehen werden.»
« Meinst du?»
« Ganz bestimmt. Wir schaffen das. Wir müssen nur zusammenhalten. Also, was ist dann passiert?»
« Ich bin den Berg hinuntergefahren, auf dem Radweg zwischen Vallau und Bruch. Da wohnen wir, in Bruch. Ich war schon auf dem Heimweg. Bin nur so herumgefahren, die meiste Zeit durch den Wald. Das war total schön. Zurück musste ich dann ein kurzes Stück an der Hauptstraße entlang. Da, wo es so hügelig ist. Ich hatte ordentlich Tempo drauf, sonst fahre ich eigentlich nie so schnell, aber ich war so in Gedanken und dann bin ich plötzlich gestürzt.»
Marita verstumm te. Ich wandte ihr den Kopf zu. Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie hatte gefasst geklungen. Das Reden tat ihr wohl gut. Ich ließ ihr Zeit. Nach einer Weile fuhr sie fort.
« Da war Sand auf dem Radweg. Der Hinterreifen ist mir weggerutscht und ich bin gefallen, zum Glück auf das Gras daneben. Wehgetan hat es trotzdem. Ich stand gerade auf und wollte das Rad aus dem Graben ziehen, da hielt ein Wagen. Ein Mann stieg aus.» Marita stockte. «Das war er.»
Plötzlich hörte ich ihre Stimme nur noch aus der Ferne. Als die Erkenntnis mich durchfuhr, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ich sah vor mir, was ich gelesen hatte: Die Bundesstraße bei Vallau. Der Radweg. Das Fahrrad im Straßengraben. Die orangefarbene Strickjacke im Kaninchenstall. Marita war die vermisste Frau. Ich hatte den Zeitungsartikel über ihr Verschwinden gelesen.
Marita und ich, wir hatten den Mann gefunden, nach dem Oliver und die Spezialeinheit der Polizei aus Berlin bisher vergeblich suchten.
Vielmehr, er hatte uns gefunden. Und wir waren nicht die Einzigen gewesen.
NEUN
Nach einer weiteren endlosen Nacht wurde irgendwann im Morgengrauen der Schlüssel im Schloss herumgedreht. Wir hatten uns die Matratze so gut geteilt wie das ging mit den Ketten. Mein Hals schmerzte, weil das Halsband scheuerte und drückte.
Marita schlief noch, ich stieß ihr den Ellbogen leicht in die Seite. Thönges trat ein.
Ohne ein Wort zu sagen , kam er näher. In der rechten Hand trug er einen Stock. Er löste erst meine Kette, dann Maritas. Dann führte er uns hinaus in den Hof, indem er uns grob hinter sich her zerrte. Es regnete in Strömen. Mein dritter Tag in Gefangenschaft begann. Thönges führte uns hinter das Haus und schloss die Ketten an einem der Wäschepfähle an. Dann ging er.
« Mir ist so kalt, Nora.»
« Ich weiß. Mir auch.»
Wir standen sicher eine Stunde im Regen. Vielleicht war es auch länger. Ich war bis auf die Haut durchnässt und fragte mich schon, ob er uns einfach vergessen hatte. Sollte das eine Strafe sein? Wofür?
Endlich kam Thönges zurück. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal freuen könnte, diesen Mann zu sehen. Er hatte sich umgezogen. Kein Wunder, er war ja vorhin auch nass geworden. Er hatte es gut. Unsere Kleidung war triefend nass. Die Haare hingen mir ins Gesicht und in meinen Schuhen stand das Wasser.
In einer Hand trug Thönges eine weiße Plastikflasche ohne Aufschrift. Er lachte. Tonlos. Nur der Mund war verzogen. Thönges trat an mich heran. Er schraubte den Verschluss der Flasche auf und goss etwas von einer rosafarbenen Flüssigkeit in seine Hand. Ich schloss die Augen. Dann spürte ich die Hände auf meinem Kopf. Überraschend sanft. Die Hände wanderten über mein Gesicht. Ich hatte Schaum in der Nase. Der Widerwillen schnürte mir die Kehle zu. Doch ich hatte mir vorgenommen, alles zu ertragen. Alles. Bis sich die sichere Möglichkeit bieten würde, ihn zu überwältigen und zu fliehen.
Irgendwann war die Prozedur beendet. Der Regen hatte abgenommen, aber es
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