Nora Morgenroth: Der Hüter
ein für alle Mal verzeihen, dass sie war, wie sie war. Wenn ich mir ausmalte, was Mutter jetzt durchmachen würde – trotz allem war ich schließlich ihre Tochter, ihre Älteste. Mutter ließ sich höchst selten ihre Gefühle anmerken, doch im Grunde wusste ich doch, dass sie Hedda und mich liebte. Vielleicht hatte sie nach dem Tod unseres Vaters keinen anderen Weg gefunden, mit ihrem Leben fertig zu werden, als eine vielbeschäftigte Karrierefrau zu werden. Materiell hatte es uns an nichts gefehlt, nur war Mutter leider nie dagewesen, wenn wir sie brauchten. Oder bildete ich mir das im Nachhinein nur ein? War es nicht immer Omi gewesen, die uns mittags die Haustür öffnete, die aufgeschlagene Knie verband und uns über den ersten Liebeskummer hinwegtröstete? Oder wollte ich nur glauben, dass es so gewesen war?
Während ich die Bürstenstriche erduldete , kam mir ein Bild in den Sinn. Ich sitze in meinem Zimmer. Ich bin vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Von dort, wo ich sitze, blicke ich in den Spiegel. Ich sehe mein schmales, ovales Gesicht. Dahinter ein anderes. Älter, aber dennoch wie ich. Das andere Gesicht liegt im Schatten. Mein Haar wird gebürstet, langsam und methodisch. Hundert Bürstenstriche jeden Abend, sagt sie und legt von hinten ihr Gesicht an meine Wange. Du hast so wundervolles Haar, Nora. Ich blicke in den Spiegel und sehe mich zweimal. Wir sehen uns so ähnlich. Mama.
Ich weinte.
«Sch, sch», machte er und summte weiter.
Ich ließ Thönges mein Haar striegeln und träumte mich fort. Manchmal klirrte die Kette leise, wenn er dagegen kam. Wie viele Stunden dauerte es? Meine Kopfhaut prickelte. Ich war benommen von der Eintönigkeit der Bewegungen. Irgendwann hörte es auf. Als ich hörte, wie die Tür zugezogen und der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde, richtete ich mich auf. Ein blasser Sonnenstrahl fiel auf den Vorhang, drang jedoch nicht bis in das Zimmer.
Der Drang war so stark, dass ich ohne weitere Umstände meine Hose herunter zog und mich über dem Eimer erleichterte. Ich atmete die Ausdünstungen meines Körpers ein. Ich stank. Der Eimer stank. Ich trug ihn so weit in Richtung Tür, wie ich konnte. Dann kehrte ich zum Fenster zurück und zog die Vorhänge auf.
Wenn er mich daran hindern wollte, hinaus zu sehen, dann hätte er es von außen zukleben oder mit Brettern vernageln können. Ich starrte hinaus. Der Wald war so nah und dennoch so fern. Hier stand ich hinter den Fenstern eines fremden Hauses und konnte nur hinaus sehen.
Die Sonne war höher gestiegen. Soweit ich es durch die Baumwipfel erkennen konnte, hatte ein weiterer wolkenloser Tag begonnen. Sonnig und klar. Der wievielte Tag mochte es sein, seitdem er mich überwältigt hatte? Zweimal war es eindeutig dunkel gewesen, mit Helligkeit dazwischen. Ich wusste nicht, wie lange ich zwischendurch bewusstlos gewesen war, aber ich beschloss, davon auszugehen, dass es mein zweiter Tag hier war. Dann wäre Mittwoch. Nicht, dass mir das Wissen um den Wochentag etwas nützte. Aber ich musste die Orientierung behalten. Es war schon schwer genug, nicht den Verstand zu verlieren. Meine Angst und diese bizarren Wortwechsel. Gespräch konnte man das wohl kaum nennen.
Thönges war – merkwürdig. Manchmal schien er mich zu durchschauen, mit einer eigenartigen Schläue oder Hellsichtigkeit. Dann wieder glotzte er nur leer oder murmelte vor sich hin. Oder er grinste unvermittelt. Und dieses sonderbare Gesumme, das war eigentlich keine richtige Melodie gewesen.
Wenn ich an die Berührung durch den Entführer dachte, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich schüttelte mich. Dann kletterte ich auf die breite Fensterbank, nahm das Stück Brot vom Vortag und biss hinein. Es roch muffig, aber ich aß. Kleine Bissen, sorgfältig kauend.
Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe. Auf dem überwucherten Hofpflaster vor dem Fenster landete ein Vogel. Ein Spatz, glaubte ich zu erkennen, so gut kannte ich mich mit Vögeln nicht aus. Er war klein und braun und hüpfte herum. Ein zweiter kam hinzu geflogen. Sie pickten unsichtbare Krumen oder Körner auf. Ihr habt es gut, dachte ich, ihr seid frei. Als hätten die Vögel meine Gedanken vernommen, flogen sie auf und davon.
Ich k onnte nicht sagen, wie lange ich dort saß. Vielleicht ein oder zwei Stunden. Da sah ich ihn über den Hof gehen. Thönges hatte sich umgezogen, wie mir schien, denn vorhin, als er neben mir hockte, hatte ich aus halb geschlossenen Augen schmutzigbraune
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