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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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will er es anfassen. Es ist so gruselig. Er tut mir nicht weh, aber … was will er von uns? Man kann ja nicht vernünftig mit ihm reden. Immer dieses Gerede von dem Loch und an anderen Tagen wieder glotzt er nur und sagt gar nichts. Oder er jagt mich über die Wiese und dann lacht er so irre … Ich verstehe es einfach nicht. Warum tut der das?»
    « Ich weiß es nicht. Ich vermute nur …»
    «Was vermutest du?»
    «Nun, ich … ich vermute, dass ich ihm in einer Sache auf die Schliche gekommen bin.»
    « Was meinst du?»
    Ich überlegte kurz, dann entschied ich mich für die Wahrheit. Das war jetzt auch gleichgültig.
    «Du wirst mich vermutlich für vollkommen durchgeknallt halten, aber ich kann es dir nur so sagen, wie es gewesen ist.»
    Und dann erzählte ich von dem Unfall vor nunmehr zweieinhalb Jahren, von den Stimmen und von Yasmine, wie ich Oliver kennengelernt hatte und schließlich dem Kauf des Hauses und des unglückseligen Bettes. Die Träume von dem Mann und dem Jungen. Während ich erzählte, sank das Licht in unserem gemeinsamen Gefängnis. Wieder ging ein Tag zu Ende. Mein Magen knurrte. Ich hatte Kopfschmerzen, weil ich so lange nichts getrunken hatte. Dazu kamen die Anspannung und der Gestank.
    Irgendwann schwieg ich. Marita sagte so lange nichts, dass ich schon dachte, sie hätte mich gar nicht gehört oder sie wäre eingeschlafen. Dann räusperte sie sich.
    « Du hast Recht. Es hört sich verrückt an. Weißt du, ich glaube nicht an sowas. Aber ja, ich glaube dir. Was soll ich auch tun. Alles hier ist verrückt und trotzdem passiert es. Also, warum nicht. Dann hörst du eben die Stimmen der Verstorbenen und siehst Dinge, die andere nicht sehen können.“ Marita machte eine kurze Pause, schluckte, dann fuhr sie mit heiserer Stimme fort: «Eines kann ich dir sagen: Seit ich hier bin, habe ich kein Kind gesehen. Und auch keines gehört.»
    Ich starrte sie an.
    «Dann ist es wohl tot.»
    « Ja», sagte Marita. «Vielleicht ist es tot. Aber vielleicht ist es einfach nur kein Kind mehr.»
    « Was meinst du damit?»
    « Na, überleg doch mal. Es gibt nur die zwei Möglichkeiten. Er ist der Vater, dann ist das Kind vermutlich tot. Oder er ist der Sohn, nur erwachsen jetzt.»
    « Du meinst – so lange ist das her, was ich gesehen habe?»
    Ich setzte mich auf. Warum war ich nicht auf diese Idee gekommen ?
    « Thönges ist der Sohn. Das kann doch nicht wahr sein!»
    « Thönges heißt er? Sieh mal an, das habe ich nicht gewusst. Jetzt hat das Arschloch einen Namen. Noch nie gehört. Und weiter?»
    « Das ist der Nachname. Der Vater hieß Rudolf. Das weiß ich von der Antiquitätenhändlerin. Rudolf Thönges. Wie der Sohn heißt, weiß ich nicht.»
    « Er redet manchmal von einem Fritz. Papafritz.» Sie stutzte. «Moment mal: Papa Fritz? Das macht keinen Sinn, wenn der Vater Rudolf hieß.»
    « Und wenn schon. Es ja auch egal.»
    Wir schwiegen. Ich hörte, dass Maritas Magen ebenfalls knurrte.
    « Ob er uns heute noch etwas zu essen bringt?»
    Sie lachte leise . Es war ein freudloses, verzweifeltes Lachen.
    « Manchmal vergisst er es, glaube ich. Als wenn er gar nicht mehr wüsste, was ich hier mache. Kommt rein und glotzt und schimpft herum und dann geht er und kommt wieder und bringt seine beschissene Bürste mit und hockt sich neben mich. Am Schlimmsten ist es, wenn er mich baden will. Es ist so ekelhaft. Da sind mir die Tage schon lieber, wenn er nur hereinkommt und wortlos das Essen hinknallt.»
    « Du hast mir immer noch nicht erzählt, wie es passiert ist.»
    « Gleich. Du, ich muss mal.»
    « Hast du einen Eimer?»
    « Ja, dort, neben dem Sofa.»
    « Dann mach, ich sehe nicht hin.»
    « Ich glaube, ich brauche noch … etwas Wolle.»
    Ich streckte meinen Arm über den Kopf und angelte nach den Soc ken. Im Zwielicht unterschied ich zwischen zwei kleineren Stücken und reichte ihr das Größere.
    « Kommst du damit klar?»
    « Ja.»
    Ich wandte den Kopf zur Wand, damit Marita wenigstens die Illusion der Abgeschiedenheit verspürte. Nicht, dass mir das jetzt noch etwas ausgemacht hätte. Normalerweise war ich eher schamhaft veranlagt, aber das hatte sich in den letzten Tagen gründlich geändert. Es spielte einfach alles keine Rolle mehr. Marita war im Moment der wichtigste Mensch für mich. Mein Leben hing von ihrem ab und umgekehrt.
    Maritas Kette klirrte leise. Ich hörte das Plätschern im Eimer. Dann kroch sie wieder neben mich.
    «Also?» , fragte ich. «Wie ist es passiert?»
    « Ich bin mit

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