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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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größer als ich war sie keinesfalls, nur etwas breiter vielleicht. Stämmig war sie oder war es vor kurzem noch gewesen, das erkannte man irgendwie. Aber ihre Haut war fahl und schlaff. Ein paar Wochen zu wenig zu essen und zu trinken. Wer wusste, wie ich dann aussehen würde? Daran durfte ich nicht einmal denken. Wir mussten einen Weg hier herausfinden. Ich würde hier nicht sterben. Nein. Und ich musste Marita dazu bringen, an eine Flucht zu glauben. Um meinetwillen. Ich kannte diese Frau nicht, wusste nichts von ihr. Nur, dass ich sie brauchen würde, wenn ich entkommen wollte. Zusammen konnten wir es vielleicht schaffen, irgendwie.
    Thönges überwältigen – ich hatte gesehen, dass der Schlüssel in seiner Hosentasche steckte. Es musste zu schaffen sein. Mit List. Vielleicht konnten wir uns etwas besorgen, etwas Scharfes. Würde ich es über mich bringen, einen Menschen zu töten? Ich wusste es nicht.
    Zuallererst musste ich Marita aufrütteln. Dann würden wir weiter sehen.
    Sie wirkte auf mich nahezu gebrochen, als ließe sie bereits alles willenlos mit sich geschehen. Was hatte der Kerl ihr angetan? Was es auch immer war – es gab keinen Grund anzunehmen, dass er es nicht früher oder später auch mit mir tun würde. Das Kämmen allein konnte es nicht gewesen sein. Nicht daran denken, beschwor ich mich, du kommst hier heraus. Was er auch immer tut, du wirst es nicht an dich heranlassen. Du wirst nicht in ein paar Wochen hier sitzen und teilnahmslos zusehen, wie eine fremde Frau in den Raum tritt und dir Wolle in die Vagina stopft. Du wirst nicht aufgeben. Denk an Hedda und Oliver und Viola und Mutter. Mama.
    « Du hast Kinder? Also los. Erzähl mir von ihnen.»
    Marita weinte immer noch. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie sanft.
    « Komm schon. Marita.»
    Sie nahm die Hände vom Gesicht, wischte sie an ihrem verschmutzten Kittel ab und machte den Rücken gerade. Wir lehnten nun beide an der Wand, die Beine ausgestreckt. Unsere Schultern berührten sich nicht, nur beinahe. Ich war mir ihrer Nähe sehr bewusst. Dieser fremden Frau war ich vor Kurzem auf brutale Weise körperlich nahe gekommen. Näher als jeder anderen Frau zuvor. Auch wenn ich rein gar nichts von ihr wusste, war sie jetzt wie eine Schwester. Wir befanden uns beide in Thönges Gewalt, wir teilten das gleiche Schicksal. Ich hatte einen Teil meiner Socke in den Leib dieser Frau gestopft, ihr Blut hatte meine Finger verklebt, vielleicht hatte ich ihr das Leben gerettet.
    Wir waren jetzt zusammen, das war alles, was zählte. Es gab keinen Platz mehr für Konventionen oder Zurückhaltung.
    Als hätte sie meine Gedanken gelesen, wischte Marita mit einem Ärmel über ihre laufende Nase und hustete. Dann fing sie an zu reden.
    «Drei. Drei Kinder habe ich. Anna, Felix und Tobias.»
    « Wie alt sind sie?»
    Marita musste weiter erzählen. Es war wichtig, dass sie sich wieder auf das Leben dort draußen besann. Wenn sie sich aufgab, war ich mit ihr verloren.
    « Felix und Tobias sind die Zwillinge, meine Großen. Die sind schon elf. Und Anna, die kleine, unser Nesthäkchen, die ist erst drei. Meine süße, kleine …»
    Ihre Stimme brach.
    «Aber sie haben doch auch einen Papa, nicht wahr?»
    «Ja, den haben sie.»
    «Wie heißt er?»
    «Markus. M ein Mann heißt Markus.»
    « Gut. Okay. Und Markus wird auf eure Kinder aufpassen, bis du wieder nach Hause kommst, nicht wahr?»
    « Ja.»
    « Siehst du? Markus ist bei deinen Kindern. Ihnen geht es gut. Sie sind nicht allein. Jetzt müssen wir nur noch hier heraus. Du willst zu deinen Kindern. Ich will zu meinem … Mann.»
    « Du hast keine Kinder?»
    « Nein,» antwortete ich. «Noch nicht, aber bevor … also, bevor das hier passiert ist, da haben wir darüber gesprochen. Ich hätte gern ein Kind.»
    « Du kannst dir das nicht vorstellen … entschuldige, aber es tut so weh, wenn ich mir vorstelle, dass ich sie niemals wiedersehen werde. Es tut so weh! Sie brauchen mich doch noch so sehr.»
    « Ja, und genau deswegen werden wir das hier schaffen. Ja? Hörst du? Wir müssen uns beide zusammenreißen. Egal, was er tut. Nur das Überleben zählt. Hast du mich verstanden?»
    « Ja.»
    « Hat er dich …»
    Ich musste es nicht aussprechen. Es war offensichtlich, was ich befürchtete.
    « Ob er mich vergewaltigt hat?»
    Marita schüttelte den Kopf.
    «Nein. Er … er fasst mich an, das schon, aber meistens will er nur mein Haar bürsten. Alle Haare. Überall. Du weißt schon. Immer

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