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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Hosenbeine vor mir gesehen. Er verschwand in der Scheune. Kurze Zeit später kam er heraus. In der Hand trug er ein Beil. Ich starrte ihn an. Als er auf das Haus zukam, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich lauschte angespannt, ob er durch die Haustür kam. Doch ich hörte nichts.
    Dann passierte nichts mehr. Als mir der Rücken wehtat vom gekrümmten Sitzen auf der Fenste rbank, kletterte ich hinunter. Die Kette ließ mir gerade so viel Spielraum, dass ich immer einen Schritt hin und her oder vor und zurück gehen konnte. Ich ging in die Hocke und richtete mich auf. Die Knie knackten. Wie lange sollte das noch weiter gehen? Fast wünschte ich, dass irgendetwas passieren würde. Nur, damit es irgendwie weiterging. Es war so eine irrsinnige Situation. Ich verstand einfach nicht, was Thönges von mir wollte. Und von der anderen Frau. Und was mit dem Kind war, wusste ich ebenfalls nicht. Vermutlich war es tot. Kein gutes Zeichen.
    Ich musste Verbindung zu der anderen Frau aufnehmen. Dann wären wir wenigstens zu zweit. Vielleicht konnten wir ihn irgendwie überwältigen. Falls Thönges zuließ, dass wir uns begegneten. Und dann? So lange wir angekettet waren, konnte es uns höchstens passieren, dass wir verhungerten, wenn Thönges unschädlich gemacht war. Es mochte Tage oder Wochen dauern, ehe jemand Fremdes auf dem Hof auftauchte.
    Plötzlich ertönte ein wütendes Gebrüll, das mich zusammenzucken ließ. Die gleiche Stimme heulte gleich darauf auf, ebenso laut. Thönges, nicht die Frau. Irgendwo im Haus. Ich erstarrte inmitten der Bewegung einer meiner minimalistischen Kniebeugen.
    « Du Dummer ich war‘s nicht du hast es kaputt gemacht nein tomitomitomi nichts gemacht du Dummer wer nicht hört kommt ins Loch sieh doch es ist kaputt ich hab‘s dir gesagt du darfst das nicht hab ich nicht ab ins Loch nein nein nein lass mich in Ruh du ich muss nachdenken ab ins Loch willst du wohl, du Dummer du mit deinem … hab ich dir nicht gesagt du sollst das lassen, du hast es kaputt gemacht nein nein, da ist doch noch eins nein das kriegst du nicht du machst es kaputt nein nein nein.»
    Ich hörte Schritte auf der Treppe. Das Jammern und Schimpfen entfernte sich.
    Er trampelte h inunter, hinauf und wieder hinunter. Eine Tür klappte. Er heulte und schimpfte immer noch. Die Schritte entfernten sich wieder, dann war es kurz still. Dann kamen sie plötzlich polternd näher. Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Ich wich zum Fenster zurück, als wenn mir das etwas nützen würde. Ich hatte das Beil vor Augen, mit dem ich ihn vorhin gesehen hatte. Oh Gott, nein.
    Thönges polterte herein. Die Hände waren leer, das erkannte ich zuallererst. Meine Erleichterung war grenzenlos. Sein Gesichtsausdruck war weder wütend noch traurig. Kaum zu glauben, dass der Ausbruch erst wenige Minuten zurücklag. Wie konnte es sein, dass er niemals eine Miene verzog? Nur manchmal dieses idiotische Grinsen. Und dann stritt er auch noch mit sich selbst. Vielleicht hatte ich mich zu Unrecht nicht vor ihm gefürchtet, also vor der Person Thönges. Woran erkannte man einen Psychopathen? Oder nannte man das schizophren?
    Hatte i ch überhaupt noch eine Chance? Thönges sah mich nicht an. Seine Hände waren blutig. Das sah ich nun. Ich dachte an das Beil und an die Messer aus den Träumen und drückte mich mit dem Rücken an die Wand. Die arme Frau. Vor meinem inneren Auge mutmaßte ich entsetzliche Verstümmelungen. Nein, dann hätte die Frau geschrien, nicht Thönges.
    « Du musst es heilmachen.»
    Was hatte er getan?
    «Ja … ja, ganz bestimmt, ich mache es heil.»
    Thönges zog den kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete das Schloss, mit dem die Kette am Heizkörper befestigt war. Dann führte er mich in die Diele und von dort nach rechts. Die nächste Tür stand offen. Der Raum war größer als meiner, er enthielt außerdem eine Matratze, die vor dem Fenster lag und gleich neben der Tür ein Sofa, dessen Stoff so verschmutzt und zerschlissen war, dass weder das ursprüngliche Muster noch die Farbe zu erkennen waren. Auf der Matratze kauerte die Frau in einer Blutlache und presste die Beine zusammen. Sie starrte wortlos zu uns auf. Ob sie erstaunt war, mich zu sehen, gab sie nicht zu erkennen. Es kam mir vor, als sei sie in eine Art Schockstarre verfallen. Vielleicht war sie schon zu lange hier.
    « Heilmachen. Sonst muss es weg. Es stinkt.»
    Ich verstand sofort. Hoffentlich würde die Frau verstehen, was ich tat. Warum ich es tat

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