Nora Roberts
aus. Ich habe bereits zahlose Sechzig-Stunden-Wochen hinter mir, Murphy, und mir scheint, als hätte mich keine dieser Wochen je mit derselben Freude oder Zufriedenheit erfüllt wie der, die ich empfinde, seit ich zum ersten Mal hier in Irland vor eine Staffelei getreten bin. Ich schätze also, daß mir der Tausch meiner Armani-Jacke gegen den Arbeitskittel wirklich schwerfallen wird.«
Sie wandte sich um und sah ihn an. »Was, soweit ich es übersehe, noch eine Sache übrigläßt. Ich kehre also nach New York zurück, erklimme die nächste Sprosse der Karriereleiter und bin allein, während der Mann, den ich liebe, dreitausend Meilen von mir entfernt hier in Irland lebt.« Sie hob die Hände. »Es scheint keinerlei Kompromiß erforderlich zu sein. Ich gebe, wenn ich bleibe, nichts auf, weil es in New York nichts für mich gibt. Diese Erkenntnis kam mir letzte Nacht. Ich will, brauche und liebe nichts und niemanden in New York. Also bleibe ich wohl besser hier, hier bei dir.
Aber du mußtest ja mal wieder edelmütig sein, nicht wahr?« brach es aus ihr hervor, als er vorsichtig näher trat. »Jetzt kann ich dir, wenn wir uns streiten, nie vorhalten, welches Opfer ich für dich gebracht habe. Weil es kein Opfer für mich ist, wohingegen du bereit gewesen wärst, alles für mich zu tun.«
Er war sich nicht sicher, ob er sprechen konnte, und als er es schließlich versuchte, brachte er nur einen einzigen unbeholfenen Satz hervor: »Du bleibst also hier bei mir.«
Sie trat vor das immer noch an dem Stein lehnende Bild und entfernte ungeduldig das braune Einwickelpapier. »Sieh dir das hier an, und dann sag mir, was du darauf erkennst.«
Einen Mann und eine Frau auf einem weißen Pferd, die Gesichter ebenso vertraut wie sein eigenes, auf einem lichtüberfluteten Feld. Im Hintergrund den Steinkreis, die zwei inzwischen herabgefallenen Kopfsteine immer noch an ihrem Platz. Die Kupferbrosche an einem Umhang, der im Wind zu wehen schien.
Aber was er vor allem sah, war, daß der Mann mit einer Hand die Zügel des Pferdes und mit der anderen die Frau umschlungen hielt. Während sie ihn ebenfalls innig umschlang.
»Sie sind zusammen.«
»Ich wollte sie so nicht malen. Er sollte fortreiten und sie zurücklassen, obwohl sie ihn bat, nicht zu gehen. Obwohl sie flehte, jeden Stolz vergaß und ihn vor lauter Tränen kaum noch sah.«
Shannon atmete vorsichtig ein und erzählte ihm zu Ende, was sie vor ihrem geistigen Auge, in ihrem Herzen gesehen hatte, als sie vor die leere Leinwand getreten war.
»Er hat sie verlassen, weil er ein Soldat war, dessen Leben aus Kämpfen bestand. Ich schätze, Kriege erfordern ebensoviel Aufmerksamkeit wie eigenes Land. Er wollte sie heiraten, konnte aber nicht bleiben, doch sie brauchte, obgleich sie sein Kind unter dem Herzen trug, keine Heirat, sondern ihn.«
Murphy hob den Kopf und sah sie an. »Sein Kind.«
»Sie hat es ihm nie gesagt. Vielleicht hätte es einen Unterschied gemacht, aber sie hat es ihm nie gesagt. Sie wollte, daß er ihretwegen blieb, daß er sein Schwert zur Seite legte, weil er sie mehr liebte als sein Metier. Als er es nicht tat, kämpften sie miteinander, genau hier an dieser Stelle. Und sagten einander verletzende Dinge, denn jeder der beiden fühlte sich verletzt. Er gab ihr die Brosche aus Zorn zurück, nicht, wie es in der Legende heißt, zur Erinnerung, und ritt davon. In dem Glauben, daß sie auf ihn warten würde. Aber sie verfluchte ihn, als er ging, und schrie, daß er niemals Frieden fände, solange er sie nicht genug lieben würde, um alles andere aufzugeben, was ihm wichtig war.«
Shannon legte die Brosche in seine Hand zurück. »Sie sah es im Feuer, als er in einer seiner Schlachten fiel, als er blutete und starb. Und sie brachte sein Kind ganz allein auf die Welt. Sie hatte endlos darauf gewartet, daß er sie genug lieben würde, um zurückzukommen und mit ihr zusammen zu sein.«
»Ich habe immer versucht, die Wahrheit ihrer Geschichte zu sehen, und habe sie trotzdem nie erkannt.«
»Wenn man die Antwort kennt, verfliegt die Magie.« Sie stellte die Leinwand fort, damit sie nicht länger zwischen ihnen stand. »Aber jetzt sind sie zusammen. Ich möchte bleiben, Murphy. Es war weder ihre Entscheidung noch die meiner Mutter. Aber es ist meine. Ich möchte hier mit dir zusammensein. Ich schwöre, ich liebe dich genug.«
Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Darf ich dich jetzt hofieren, Shannon?«
»Nein.« Sie stieß ein zittriges Lachen aus.
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