Noras großer Traum (German Edition)
sie Nora nicht eine Minute langweilig. Nach und nach ließen sie die letzten Ausläufer des Ortes hinter sich und fuhren etliche Kilometer an Weidezäunen entlang. Die zunächst asphaltierte Straße war in eine der im Outback üblichen unbefestigten Fahrbahnen übergegangen. Und da es länger nicht geregnet hatte, zogen sie eine rote Staubwolke hinter sich her.
Tom, der anscheinend alles über die Gegend wusste, deutete hierhin und dorthin und erklärte ihnen die landschaftstypischen Gegebenheiten, wie sich zum Beispiel bestimmte Landstriche bei starken Regenfällen veränderten, dass einige Abschnitte der Straße nicht mehr passierbar waren, wenn der Fluss über die Ufer trat, oder er wies sie im Vorbeifahren auf die Piste hin, die das Postflugzeug zwei- bis dreimal in der Woche benutzte. Auch machte er sie auf ein bestimmtes Straßenschild aufmerksam, das ein Flugzeug und die Buchstaben RFDS zeigte. Dieses Schild wies die zum Teil schnurgerade Straße, die sie befuhren, in Notfällen als Start- und Landebahn des Flying Doctor Service aus.
Nora musste wieder einmal schmunzeln, als sie daran dachte, wie man in Deutschland im dichten Verkehr mit seinem Auto rechts an die Seite fuhr, um ein Fahrzeug der Feuerwehr oder Polizei vorbeizulassen, das sich mit der Sirene angekündigt hatte. Wie anders war die Welt hier; man fuhr beiseite, um ein Flugzeug auf der Fahrbahn landen zu lassen. Interessiert sahen sie und Martin in die Richtung, in die Tom nun deutete, um ihnen ein paar wilde Kamele am Straßenrand zu zeigen.
Nach einer Weile fragte Nora Tom: »Können Sie uns noch etwas über Mrs. Sanderson erzählen? Wie kommt es, dass sie dort ganz allein lebt?«
Um Toms Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Nun, sie ist ein wenig eigensinnig. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie sich schlichtweg geweigert, in den Ort zu ziehen.«
Bevor er weitersprechen konnte, hatte Nora eingeworfen: »Hat sie denn keine Kinder, die sich um sie kümmern können?«
Tom seufzte. »Doch, sie hat zwei Söhne. Einer lebt in Brisbane, der andere ist in Sydney verheiratet. Beide haben aber mit dem Farmleben nichts am Hut. Sie hat es tatsächlich eine Weile mit ein paar Hilfskräften und einem besonders guten Nachbarn versucht, der ihr auch hier und da unter die Arme gegriffen hat, aber sie musste dann doch einsehen, dass es nicht zu schaffen war. Also hat sie fast das ganze Vieh verkauft, die Weideflächen an Nachbarn verpachtet und lebt jetzt trotzig allein auf der Farm. Es war natürlich eine herbe Enttäuschung für sie – und auch noch für ihren Mann damals –, dass keiner der Söhne sich für die Farm interessierte, aber die Zeiten haben sich geändert. Die jungen Leute treffen heute eigene Entscheidungen, und so müssen sich nun viele Eltern und Großeltern damit abfinden, dass es die Jugend in die Städte zieht.« Tom deutete auf einen kleinen staubigen Seitenweg in einiger Entfernung. »So, da vorne müssen wir abbiegen, und dann sind wir bald da. Ich bin schon gespannt, wie sie Ihnen gefallen wird.«
Nora und Martin hatten ihre Entscheidung, Tom zu begleiten, nicht bereuen müssen. Die weißhaarige alte Dame mit ihren blitzenden Augen war ein Ausbund an Lebhaftigkeit und schwarzem Humor. Das, was man im Allgemeinen als ein Original bezeichnete. Außerdem bot der unerwartete Besuch durch die deutschen Journalisten ihr offensichtlich eine echte Abwechslung, und sie lief in ihrer Erzählkunst zur Höchstform auf. Martin hatte zunächst verblüfft ausgesehen, als sie ihm die Erlaubnis erteilt hatte, sich auf der Farm umschauen und Fotos machen zu dürfen, wenn er vorher ihre Hühner füttern würde. Auch Tom war einverstanden gewesen, sich bei der anstehenden Untersuchung und dem Verbandwechsel fotografieren zu lassen, während Nora sich Mrs. Sandersons Lebensgeschichte anhörte und sich wie immer Notizen machte.
Auch noch im Wagen auf der Heimfahrt nach Cameron Downs war sie mit den Gedanken bei den Erzählungen der alten Dame, als plötzlich das Funkgerät knackte und Tom den Lautstärkeknopf regelte, um einen Funkruf besser mithören zu können, den Greg Wilson aus der Zentrale gerade an die Maschine der Flying Doctors richtete.
»Sierra Lima Tango für Alpha Foxtrott Delta. Phil, kannst du mich hören?« Es knackte erneut im Funkgerät, und der Pilot meldete sich.
»Hier Alpha Foxtrott Delta für Sierra Lima Tango. Greg, wir hören dich laut und deutlich. Was gibt es? Wir sind schon auf dem Heimweg; voraussichtliche Landung in Cameron
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