Noras großer Traum (German Edition)
das nicht toll?«
Nora hörte auf davon zu erzählen, was sie innerlich beschäftigte. Sie lebte weiter ihr Leben und floh, wann immer sie Zeit fand, in ihre Bücher über Australien. Neben der Einzigartigkeit der Landschaft des australischen Kontinents fesselte sie vor allem die alte Kultur der Aborigines. Es gefiel ihr, sich mit der Traumzeit zu beschäftigen, die den Mittelpunkt des religiösen und spirituellen Lebens dieses Volkes darstellt. Diese Traumzeit beschreibt die Schöpfungsgeschichte der Erde und aller Lebewesen. Nora verstand jetzt, dass sie aber nicht das Träumen im eigentlichen Sinne meinte, sondern eher eine Wirklichkeit jenseits der irdischen Realität, da sich die Traumzeit auf eine Zeitspanne bezieht, die noch vor dem menschlichen Erinnerungsvermögen liegt. Nora gefiel besonders die bildhafte Sprache dieser Traumzeitbeschreibungen, in denen die übernatürlichen Ahnenwesen wie die Regenbogenschlange, die Blitzgeister, die Wagilag-Schwestern oder der Tingari ihre schöpferische Wanderung über die Erde aufgenommen hatten und entlang ihrer Wanderwege, den Traumpfaden, Leben erschufen. Sie legten auch die Gesetze des sozialen und religiösen Verhaltens fest, wobei es sich hier nicht unbedingt um starre Regeln handelte, sondern vielmehr um einen ideologischen Rahmen, der den Menschen ein harmonisches Gleichgewicht mit dem Universum ermöglichen sollte. Als sich die Ahnenwesen wieder in den Himmel oder in die Erde zurückzogen, hinterließen sie den Menschen ihre Schöpfungslieder, eine Art Lebensgesang, der allen Schöpfungen einen Namen gab. Diese »Songlines« – gesungene Traumpfade – überzogen die ganze Erde. Mit dem Erbe der Schöpfungslieder hatten die Menschen nun die Verantwortung für die Schöpfung übernommen – und für ihren andauernden Schutz und ihre Erneuerung. Es beeindruckte Nora, dass die Aborigines das Land, auf dem sie lebten, nicht als Besitz im europäischen Sinne verstanden, sondern als Teil ihres Wesens betrachteten. Auf diese Weise wurde die Verantwortung für den Schutz ihrer heiligen Stätten zum Mittelpunkt ihres geistigen Lebens. Nora begriff vor diesem Hintergrund erst, was für eine Katastrophe es für diese Menschen gewesen sein musste, als die ersten Siedler mit Billigung der englischen Krone das Land unter dem Namen »Terra Nullius« – »Niemandsland« – an sich nahmen. Sie beschäftigte sich lange damit, nachzuvollziehen, wie die Aborigines im Einklang mit der Natur gelebt, nicht nach Neuerungen oder Eigentum gestrebt hatten, aber altbewährte Traditionen aufrechterhielten und über geistige und mentale Fähigkeiten verfügten, die weit über das normale Verständnis und das von Technik beherrschte Know-how der Europäer hinausgingen, welche weder die einzigartige, über vierzigtausend Jahre alte Kultur noch diese besonderen Fähigkeiten erkannten und zu schätzen wussten, sondern sie meist einfach als »unzivilisiert« abtaten.
Die Bücher Traumfänger und Traumreisende von Marlo Morgan, die mit den Angehörigen eines Aborigines-Stammes mehrere Monate im australischen Busch unterwegs gewesen war, hatte Nora sogar ein paarmal gelesen – aus dem Wunsch heraus, mehr zu verstehen –, und oft nahm sie sie, wenn sie meinte, ihrem Leben würde etwas fehlen, wieder zur Hand und las einzelne Passagen, die sie innerlich berührt hatten, erneut und zog, so eigenartig ihr das manchmal selbst vorkam, eine tiefe innere Kraft daraus. Die Weisheiten dieses Volkes waren so klar und einfach und übten dennoch fast so etwas wie Magie auf Nora aus. Immer häufiger jedoch spürte sie Traurigkeit in sich, weil niemand aus ihrer Welt auch nur einen Funken Bereitschaft zeigte, sich für diese andere Welt zu öffnen, aus der man ihrer Meinung nach so viel lernen konnte. Auch sie wäre gar nicht bereit gewesen, so ursprünglich zu leben wie dieses Volk, aber sie bemühte sich, den tiefen Sinn und die große Weisheit in sich aufzunehmen, und versuchte einiges davon in ihre Welt zu übertragen.
Ihre Überlegungen führten sie aber auch in eine Nachdenklichkeit, die ihr vor Augen hielt, dass sie mit ihrem Leben so, wie es war, nicht nur glücklich war. An diesem Punkt angelangt, kämpfte sie stets mit dem Gefühl aufkommender Undankbarkeit, denn schließlich hatte sie es doch gut. Sie und ihr Mann hatten sich zwar früh gebunden, aber aus Liebe geheiratet, ihre Kinder aus Liebe bekommen und alles für das Glück ihrer Familie getan. Dennoch fühlte sie sich mittlerweile in
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