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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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schuldbewusst.
    Mein Vater hätte die Bäume sofort umhauen lassen, um an sein Geld zu kommen. Da bin ich ganz sicher. Aber insgeheim bin ich froh, dass Mel so reagiert. Wenn wir nicht an Land müssen, können uns auch die Wölfe nicht kriegen oder der tollwütige Fuchs.
    „Ist eh nur Geld. Bedrucktes Papier, total überbewertet“, sagt Mel, und wie sie das sagt, meint sie das wohl auch.
    „Findest du?“, erwidere ich eingeschnappt. Wenn das ihr Geld gewesen wäre, würde sie bestimmt nicht so reden.
    „Wie gewonnen, so zerronnen. Außerdem sind wir nicht ganz pleite. Ein bisschen was haben wir ja noch. Das reicht locker bis zur Ostsee“, meint Mel und hält die drei Fünfzigeuroscheine hoch. „Wir sollten lieber überlegen, wie wir ohne Diesel hier wegkommen.“
    „Wir können staken“, schlage ich vor, weil ich auch wegwill. „Das Wasser ist nicht so tief und an Bord muss irgendwo eine lange Stange liegen.“
    Die Stange ist aus Aluminium, etwa zwei Meter lang und hat am Ende einen Ring. Eigentlich ist sie dazu gedacht, Leute zu retten, die über Bord gefallen sind. Aber wenn man sich mit dem stumpfen Ende am Grund des Kanals abstößt, kann man damit auch prima ein Boot vorantreiben. Zumindest theoretisch. Praktisch klappt das nicht, weil sich das Boot im Kreis zu drehen beginnt.
    „Soll ich nicht erst das hier hochziehen?“, schlägt Mel vor und hält kichernd die Ankerkette in die Höhe.
    „Das wäre sehr freundlich von dir“, erwidere ich sauer, und jetzt verstehe ich, warum wir nicht vorwärtskommen. Peinlich, weil es nach dem Seil am Steg schon das zweite Mal ist, dass mir so etwas passiert.
    Mel lichtet den Anker und geht ans Steuer. Das tut sie so selbstverständlich, als wenn sie nie etwas anderes getan hätte, als mit Dreimastern unter vollen Segeln Kap Hoorn zu umrunden.
    Ich stehe am Heck des Bootes und beginne wieder zu staken. Dazu ziehe ich die Stange ein Stück aus dem Wasser, schiebe sie senkrecht zurück, bis ich auf Grund stoße, und drücke mich ab. Nachdem ich das zehnmal gemacht habe, bin ich fix und fertig.
    „Kannst du mich mal ablösen?“, rufe ich Mel zu und wische mir den Schweiß von der Stirn.
    „Geht nicht, Elvis“, antwortet sie, ohne sich nach mir umzudrehen. „Einer muss steuern.“
    „Das kann ich doch so lange machen!“
    „Geht trotzdem nicht. Ich krieg sonst wieder einen Anfall und keine Luft mehr. Das ist mordsgefährlich!“ Mel dreht sich endlich zu mir um und fängt an zu röcheln. Aber nur kurz, dann hört sie wieder auf. „Weißt du eigentlich, dass du aussiehst wie ein Streuselkuchen? Du hast überall Mückenstiche im Gesicht.“
    Das habe ich vor lauter Aufregung noch gar nicht gemerkt. Aber jetzt, wo ich es weiß, fangen die fürchterlich an zu jucken, und dass ich so schrecklich schwitze, macht die Sache nicht besser.
    Ich betrachte Mel. Sie hat in der letzten Nacht nicht einen einzigen Stich abgekriegt und das ist nicht fair.
    „Wieso haben die dich nicht gestochen?“
    „Tja, Tiere wissen eben, wer ihre Freunde sind und wer nicht. Ich wollte jedenfalls keine Nester zerstören, nur wegen ein paar Kröten.“
    „Mücken sind keine Tiere, das sind Insekten. Und außerdem sollten die mir dankbar sein. Vögel fressen nämlich Insekten. Die blöden Mücken wissen einfach nicht, wer ihre wahren Freunde sind“, antworte ich wütend.
    „Schieb lieber das Boot an, statt so einen Blödsinn zu quatschen. Sonst hocken wir morgen noch hier“, erwidert Mel und dreht sich wieder nach vorne.
    Wenn ich daran denke, dass ich jetzt in Florida oder in Indonesien mit einem gekühlten Getränk am Pool sitzen könnte, bin ich mir nicht mehr so sicher, dass meine Entscheidung auf dem Rastplatz die richtige war. Sollte mir aus dem Himmel ein Telefon vor die Füße fallen, würde ich sofort meinen Vater oder meine Mutter anrufen. Das ist eine schöne Vorstellung und schon beim bloßen Gedanken an meine Rettung geht es mir gleich viel besser. Genau bis zu dem Augenblick, in dem mir einfällt, dass ich ihre Nummern gar nicht habe. Meine Eltern haben beide Geheimnummern, die kriegt man nicht so einfach über die Auskunft raus. Klar habe ich die, ich bin ja ihr Sohn. Aber die waren in meinem iPhone gespeichert, das irgendwo auf dem schlammigen Grund des Sees hinter uns liegt.
    Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Stange wieder in die Hand zu nehmen und loszustaken. Ich lasse sie ins Wasser gleiten, bis ich auf Grund stoße, und drücke mich ab. Dann ziehe ich die

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