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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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weg!“
    Ich habe keine Ahnung, was sie meint. Vielleicht das Wasser. Könnte ja sein, dass sich das ganze Wasser zurückgezogen hat, so wie kurz vor einem Tsunami. Für einen Augenblick steigt Panik in mir auf, aber die kann ich niederringen. Für eine Sturmflut sind wir viel zu weit von der Küste entfernt.
    Glaube ich jedenfalls.
    „Was ist weg?“, schreie ich zurück, weil ich keine Lust habe aufzustehen, nur um festzustellen, dass Mel das schöne Wetter von gestern gemeint hat. Aber das kann es nicht sein. Von draußen scheint die Sonne durchs Kajütenfenster herein.
    Ehe ich weitere Vermutungen anstellen kann, ruft Mel von oben: „Das Geld! Das ganze Geld ist weg!“
    Mit einem Satz springe ich aus dem Bett. Zum Glück sind meine Fechtjacke und die Jeans über Nacht getrocknet. Ich ziehe sie schnell an und stürze die Treppe hoch an Deck. Mel steht unter der Wäscheleine und nimmt die letzten Scheine ab.
    „Hundertfünfzig Euro sind noch da!“, sagt Mel, als sie mich bemerkt. „Der Rest ist über Nacht verschwunden.“
    „Nichts verschwindet einfach so!“, erwidere ich und sehe Mel misstrauisch an.
    „Was guckst du so?“ Mel schaut zurück. „Du denkst doch nicht etwa … Klar denkst du das! Du denkst, ich hätte mir das Geld unter den Nagel gerissen, weil ich nicht mit dir teilen will.“
    „Nein, denk ich nicht.“
    Und das stimmt auch. Mein erster Gedanke war völliger Quatsch.
    „Yep, da ist aber eine ordentliche Entschuldigung fällig“, raunzt Mel mich an. „Wenn ich dich übers Ohr hauen wollte, wäre ich schon längst auf und davon. Und die hundertfünfzig Euro hätte ich dann bestimmt nicht an der Leine hängen lassen.“
    „’tschuldigung“, murmele ich leise, weil ich mich tatsächlich für meinen Verdacht schäme. Ein bisschen zumindest.
    „Wie bitte? Ich höre dich nicht!“ Mel hält die rechte Hand ans Ohr.
    „Entschuldige bitte!“, wiederhole ich. Diesmal etwas lauter.
    „Angenommen“, sagt Mel und damit ist die Sache für sie erledigt. „Ich wüsste nur zu gerne, wer uns beklaut hat, wenn ich es nicht war.“
    „Vielleicht ist der Dieb noch in der Nähe“, flüstere ich und greife zu dem Fernglas, das an einem Haken neben dem Steuerrad hängt. Zuerst untersuche ich das rechte Ufer. Aber da ist außer grünen Bäumen und Büschen nichts zu sehen. Auch links des Kanals ist abgesehen von ein paar Rotkehlchen kein Lebewesen zu entdecken.
    Ein Lichtreflex aus den Bäumen lässt Mel und mich gleichzeitig nach oben schauen. Ohne Fernglas kann Mel nicht viel erkennen. Aber ich sehe es genau. Ein Sonnenstrahl ist auf einen dieser silbernen Fäden gefallen, die man auf jedem Euroschein finden kann. Der Schein ist Teil eines Elsternnestes, das unterhalb der Krone eines Baumes in einer Astgabel verankert ist. Ich schwenke mein Fernglas und entdecke in der Nähe noch mehr Nester. Von hier unten sieht es aus, als ob sie alle zu großen Teilen aus meinem Gesparten gemacht worden sind.
    „Da! Da oben ist es.“ Ich reiche Mel das Fernglas und zeige ihr, wo sie hinschauen muss.
    „Ganz schön räuberisch, die Tierwelt in dieser Gegend. Gestern der Fisch und jetzt die Vögel. Fehlt nur noch, dass uns hinter der nächsten Ecke ein Wolf mit vorgehaltener Knarre auflauert und ,Geld oder Leben‘ ruft“, sagt Mel und kichert.
    „Gibt es hier Wölfe?“ Erschrocken nehme ich ihr das Fernglas aus der Hand und scanne das Ufer noch einmal. Nur um ganz sicherzugehen.
    „In Polen gibt es welche. Und das ist nicht so weit weg.“
    Das braucht sie mir nicht zu sagen. Ich weiß, dass ein männlicher Wolf locker dreißig Kilometer am Tag zurücklegen kann. Für den ist die Strecke von Polen bis hierhin ein Klacks. Das reißt er noch vor dem Frühstück auf einer Pobacke ab.
    „Und was machen wir jetzt? Zum Raufklettern sind die Nester zu hoch“, erklärt Mel, während ich mich mit dem Gedanken beruhige, dass uns der Wolf nichts anhaben kann, wenn wir auf dem Boot bleiben.
    Ich zucke nur die Achseln, weil ich gerade etwas Braunes mit vier Beinen und einem buschigen Schwanz am Ufer entdeckt habe. Es ist aber bloß ein Fuchs, und solange er keine Tollwut hat, macht der mir keine Angst.
    „Wir könnten die Bäume fällen!“, erkläre ich, als der Fuchs wieder im Grün verschwunden ist. „Dann kommen wir an das Geld.“
    „Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach die armen Bäume töten! Und überhaupt, was ist dann mit den Nestern und den Eiern?“
    „War ja nur ein Vorschlag“, erwidere ich

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