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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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Stange ein Stück heraus, schiebe sie wieder zurück, bis ich auf Grund stoße, und drücke mich ab. Und so weiter und so fort.
    Tatsächlich kommen wir gut voran. Nicht so schnell wie mit dem Motor, aber es geht, und dass ich mit beiden Händen die Stange halten muss, hat zumindest den Vorteil, dass ich mich nicht an den Mückenstichen kratzen kann.
    Wir reden nicht viel, eigentlich gar nichts, während ich stake und Mel steuert. Der Kanal windet sich wie eine Schlange durch den Wald und Mel muss aufpassen, dass wir nicht rechts oder links in Ufernähe auf Grund laufen.
    „Steuerbord! Du musst mehr Steuerbord halten!“, brülle ich von hinten, weil sich unser Boot für meinen Geschmack schon viel zu nahe an der Uferböschung befindet. Wir können jederzeit mit dem Kiel im Sand hängen bleiben. Dann müsste einer von uns ins Wasser springen und versuchen, das Schiff wieder freizubekommen. Ich befürchte, dass ich das sein würde, weil Mel dabei ja wieder einen Anfall kriegen könnte.
    Es sei denn, sie spielt mir das alles nur vor. Zutrauen würde ich es ihr. Aber dann erinnere ich mich daran, wie elend sie ausgesehen hat, als sie in der Villa nach Luft ringend auf dem Boden lag. War das wirklich erst vorgestern? Mir kommt es vor, als würde ich sie schon seit Jahren kennen.
    „Was brüllst du?“, ruft Mel mir über die Schulter zu.
    „Steuerbord! Du musst mehr nach Steuerbord lenken!“
    „Kannst du nicht deutsch reden?“
    „Rechts! Steuerbord heißt rechts!“
    „Sag das doch gleich!“ Mel dreht das Steuerrad nach rechts und bringt uns wieder in die Mitte des Kanals.
    Vor lauter Brüllerei hätte ich ihn fast übersehen. Ein alter Mann sitzt am Ufer und angelt. Er hat einen struppigen braunen Bart, trägt einen blauen Overall und auf dem Kopf einen Hut aus Leder, der aussieht, als wenn er und sein Besitzer schon eine Menge zusammen erlebt hätten. Der Fremde erinnert mich an John Selman, von dem in meinem Buch ein Foto ist. Das war ein Revolverheld, der in Texas einen Mann erschossen hat, weil der auf seine Rufe nicht reagierte. Der Mann war taub, aber das wusste Selman nicht. Er hat dann noch ein paar andere Leute erschossen, ehe es ihn selber erwischte.
    „Ahoi, habt ihr Hunger?“, ruft der Angler uns zu, als wir schon fast an ihm vorüber sind.
    Mel entdeckt ihn jetzt auch und das ist schlecht, weil ich gehofft hatte, dass wir unbemerkt an ihm vorbeigleiten können.
    Das geht nun nicht mehr, weil Mel laut zurückruft: „Aber klar doch! Warten Sie, wir kommen rüber!“
    „Bist du wohl ruhig! Wir wissen doch gar nichts über den“, zische ich ihr zu.
    „Na und? Er weiß auch nichts über uns und trotzdem lädt er uns ein. Kann also kein wirklich schlechter Mensch sein.“
    „Nein, wirklich schlecht nicht, aber vielleicht sehr schlecht.“
    „Ich hab Hunger. Rohe Pizza ist nicht übel, aber auf die Dauer ein bisschen fad. Bist du etwa nicht hungrig?“
    Natürlich bin ich hungrig. Außerdem habe ich keine Wahl. Auch wenn Mel Steuerbord und Backbord nicht auseinanderhalten kann: Sie ist die Steuerfrau und das heißt, dass sie sagt, wo es langgeht. Ich mit meiner Stange bin nur so was wie ein Galeerensklave und ich bezweifle sehr, dass die jemals mitbestimmen durften, welchen Kurs das Schiff nimmt. Eigentlich sollte es andersrum sein, dass ich hier sage, wo es langgeht, weil das Boot ja meinem Vater gehört und nicht ihrem. Sagte ich das schon? Das kann man gar nicht oft genug sagen. Nur eben nicht Mel.
    Sie lenkt das Schiff ans Ufer und legt an. Aber nicht so, wie man es eigentlich macht, indem man sich sanft längsseits nähert. Mel steuert einfach frontal auf die Böschung zu, sodass sich der Bug des Schiffes ein paar Meter aufs Land schiebt.
    „Hey, passt auf! Sonst überfahrt ihr noch Tito!“, ruft der Mann mit dem Lederhut und lacht.
    Er ist aufgestanden und hat sich seine Angel und einen Eimer mit Fischen geschnappt. Mel klettert über die Reling und springt zu ihm hinunter. Obwohl ich das alles immer noch für höchst gefährlich und unbedacht halte, springe ich hinterher.
    „Ich bin Erich“, stellt der Alte sich vor und reicht uns die Hand. Erst Mel, dann mir. Er hat einen kräftigen Händedruck, und als er meine Finger zerquetscht, spüre ich, dass meine Handfläche vom Staken schon voller Blasen ist. „Ich freu mich über euren Besuch. Kommt nicht oft vor, dass sich jemand hierher verirrt. In so einem schicken Boot schon gar nicht.“
    „Mein Name ist Sonja und das da ist Justin“,

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