Norden ist, wo oben ist
stellt uns Mel vor, und als sie meinen überraschten Blick bemerkt, macht sie mir ein Zeichen, die Klappe zu halten.
„Freut mich, euch kennenzulernen. Der hier heißt übrigens Tito“, sagt Erich und zeigt auf den Boden neben sich. Als er unsere überraschten Gesichter sieht, ergänzt er: „Keine Sorge, der beißt nicht. Tito liebt Kinder!“
Das Problem ist, da ist kein Hund. Weder dort, wo er hinzeigt, noch sonst irgendwo.
Ich finde das nicht schlimm, ich mag keine Hunde. Katzen übrigens auch nicht. Eigentlich überhaupt keine Tiere, die beißen, kratzen oder stechen können. Schlimm ist, dass Erich sich den Hund einzubilden scheint. Der Kerl ist eindeutig verrückt und wer weiß, auf was für Ideen der sonst noch kommt. Vielleicht, dass wir Zombies sind, die er erlegen muss.
„Folgt mir einfach. Es gibt Kartoffeln aus meinem Garten und dazu gegrillten Fisch“, sagt Erich und hält den Eimer in die Höhe. Erst jetzt sehe ich, dass darin drei Fische schwimmen. Immerhin, die gibt es wirklich, sonst wäre das ein ziemlich trostloses Mahl geworden.
„Komm, Tito! Wir gehen nach Hause!“, ruft Erich und setzt sich in Bewegung.
Mel will sofort hinterher, aber ich halte sie am Arm fest.
„Der Kerl ist komplett durchgedreht!“, flüstere ich warnend.
„Na und?“, erwidert Mel und macht sich frei. „Er wird uns schon nicht auffressen.“
„Bist du sicher?“
„Keine Sorge, und zur Not habe ich immer noch das hier“, antwortet Mel und zieht ihren Pullover ein Stück hoch. In ihrem Hosenbund steckt die Seifenpistole und ich überlege, ob ich mir noch schnell das Florett aus der Kajüte holen soll.
Ich lasse es dann aber doch. Stattdessen sage ich zu Mel: „Die ist nur aus Seife! Die nützt uns gar nichts.“
„Yep, aber der Alte riecht, als wenn er sie brauchen könnte.“ Mel grinst.
„Wo bleibt ihr denn?“, ruft Erich, der einen schmalen Pfad vorausgelaufen ist und auf uns wartet.
„Wir kommen schon!“, antwortet Mel und läuft los.
Der Alte pfeift nach dem Hund, den es nicht gibt und der irgendeiner Kaninchenfährte hinterhergehechelt ist, die es auch nicht gibt.
Ich könnte am Schiff bleiben, aber das ist keine wirkliche Alternative wegen der Wölfe und dem tollwütigen Fuchs. Und außerdem: Einer muss sich ja um Mel kümmern. Oder sollte ich besser Sonja sagen?
Als ich Mel einhole, läuft sie neben Erich her. Der Pfad ist so schmal, dass ich hinter den beiden hergehen muss. Erich könnte die Seifenpistole wirklich gut brauchen, weil er in der Tat ein bisschen müffelt. So, als hätte er seit Wochen nicht gebadet.
Mel erzählt ihm gerade, dass wir das Boot für unsere Eltern in den nächsten Ort überführen. Unser Vater, sagt sie, wäre ein hohes Tier bei der Kripo und unsere Mutter Oberstaatsanwältin am Gericht.
Das macht sie richtig gut, und wenn das den Kinderfänger nicht von seinen abscheulichen Plänen abbringt, weiß ich auch nicht.
Erich sagt kein einziges Wort, sondern schleppt fröhlich pfeifend seine Angel und den Eimer mit den Fischen, die munter im Wasser herumplanschen. Die wissen ja nicht, dass es schon bald damit vorbei sein wird.
„Unser Vater ist Sonderspezialermittler für Kidnapper“, sagt Mel gerade, und ich finde, damit übertreibt sie jetzt ein wenig.
Erich scheint das überhaupt nicht zu beeindrucken. Vielleicht ist er doch ganz harmlos. Oder noch viel abgebrühter, als ich befürchtet hatte.
„Wir sind da! Willkommen in der Casa Kuba!“ Erich zeigt auf eine kleine Hütte, die am Ende des Pfades auf einer Lichtung steht. Sie erinnert überhaupt nicht an eine Strandbude in der Karibik, sondern mehr an ein Pelzjägerblockhaus, wie man es aus Filmen über Trapper in Kanada oder Alaska kennt. Das liegt wahrscheinlich auch an den abgezogenen Tierfellen, die aufgespannt auf einem Gestell neben dem Eingang zum Trocknen hängen. Hinter der Hütte kann ich einen Schuppen erkennen, vor dem ein kleines Beet mit Grünzeug liegt. Direkt dahinter beginnt der Wald. Die Lichtung ist nicht größer als der Strafraum auf einem Fußballplatz.
Erich geht voraus und hält uns einladend die Tür auf. Die Hütte stinkt wie der Bau eines alten Dachses, der vor drei Monaten gestorben ist und sich jetzt im Zustand zunehmender Verwesung befindet. Erich wartet an der offenen Tür und brüllt in den Wald: „Tito! Komm rein und lass die Eichhörnchen in Ruhe!“
Dann folgt sein Blick dem unsichtbaren Hund, der hereintrottet und sich vor dem Kamin auf einer Matte
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