Nordermoor
Militärstiefeln?«
»Nein. War er es? Wisst ihr, wer es war?«
»Nein«, sagte Erlendur und stieß eine halb volle Bierdose um, als er sich auf dem Weg hinaus umdrehte.
Die Frau wollte mit den Söhnen für einige Tage zu ihrer Mutter und war im Aufbruch. Sie wollte nicht, dass die Jungen in diesem Haus blieben, nach allem, was passiert war. Der Mann nickte zustimmend. Sie waren sichtlich geschockt. Sie hatten die Wohnung vor vier Jahren gekauft, und ihnen gefiel es in Nordermoor. Eine gute Wohngegend. Auch für Kinder. Die Jungen standen an der Seite ihrer Mutter.
»Schrecklich, ihn so aufzufinden«, sagte der Mann, und die Stimme sank zu einem Flüstern hinab. Er blickte auf die Jungen. »Wir haben ihnen gesagt, er hätte geschlafen, fügte er hinzu. Aber …«
»Wir wissen, dass er tot war«, sagte der ältere Bruder.
»Tot«, sagte der jüngere.
Die Eheleute lächelten verlegen.
»Sie werden schon damit fertig«, sagte die Frau und streichelte dem Älteren die Wange.
»Ich hatte eigentlich nichts gegen Holberg«, sagte der Mann. »Wir haben uns manchmal hier draußen unterhalten. Er hat ja schon lange hier gewohnt, und wir haben über den Garten und die Reparaturen am Haus gesprochen oder sonst was, worüber man halt so unter Nachbarn redet.«
»Aber sonst war da kein Kontakt«, sagte die Frau. »Mir ist das recht so. Ich finde, man sollte sich nicht zu nahe kommen. Es gibt ja schließlich so etwas wie eine Privatsphäre.«
Sie hatten nichts Ungewöhnliches bemerkt und keinen Mann in einem grünen Militärparka sich im Viertel herumtreiben sehen. Die Frau war ungeduldig, sie wollte mit den Jungen endlich weg.
»Kamen viele Leute zu Holberg?«, fragte Sigurður Óli.
»Ich habe nie jemanden bei ihm bemerkt«, antwortete die Frau.
»Er wirkte eher einsam«, sagte ihr Mann.
»Bei ihm drinnen hat es gestunken«, sagte der ältere Sohn.
»Gestunken«, plapperte der jüngere nach.
»Da ist Feuchtigkeit im Keller«, sagte der Mann entschuldigend.
»Sie dringt manchmal bis zu uns nach oben«, sagte die Frau. »Die Feuchtigkeit.«
»Wir haben darüber mit ihm gesprochen«, sagte der Mann.
»Er wollte das abchecken«, sagte sie.
»Das ist zwei Jahre her«, sagte er.
Kapitel 4
D as Ehepaar in Garð abær schaute Erlendur besorgt an. Ihr Töchterlein war verschwunden. Seit drei Tagen hatten sie nichts von ihr gehört. Seit der Hochzeit. Sie erklärten, dass sie von der Hochzeit weggelaufen sei. Das Töchterlein. Erlendur sah im Geiste ein niedliches blond gelocktes Mädchen vor sich, aber dann erfuhr er, dass sie 23 Jahre alt war und an der isländischen Universität Psychologie studierte.
»Von der Hochzeit?«, fragte Erlendur und schaute sich in diesen weitläufigen Gemächern um; das Wohnzimmer war so groß wie eine ganze Etage in seinem Haus.
»Ihrer eigenen Hochzeit!«, sagte der Mann, als verstünde er immer noch nicht, was geschehen war. »Das Mädchen ist von ihrer eigenen Hochzeit weggelaufen!«
Die Frau führte ein zerknittertes Taschentuch zur Nase.
Es war bereits Mittag. Wegen Bauarbeiten a n der Ausfallstraße aus Reykjavík hatte Erlendur eine halbe Stunde bis Garðabær gebraucht und die Villa erst nach einigem Suchen gefunden. Sie war von der Straße aus kaum einzusehen, umgeben von einem großen Garten, wo die verschiedensten Bäume sechs Meter hoch in den Himmel ragten. Die Eheleute empfingen ihn offensichtl ich in höchster Aufregung.
Erlendur wusste, dass dies Zeitvergeudung war und andere dringendere Dinge auf ihn warteten, aber wo seine Ex-Frau ihn nun schon einmal um einen Gefallen gebeten hatte, wollte er ihn ihr nicht abschlagen, auch wenn sie praktisch zwei Jahrzehnte lang nicht miteinander geredet hatten.
Die Frau trug ein elegantes, blassgrünes Kostüm und er einen schwarzen Anzug. Er erklärte, dass sie sich wegen der Tochter große Sorgen machten, meinte aber, dass sie schon heil wieder nach Hause kommen würde, da sei er ganz sicher. Sie hätten sich aber mit der Polizei kurzschließen wollen. Seiner Meinung nach gab es keinen Grund, gleich Suchtrupps und Rettungsmannschaften einzusetzen oder Suchmeldungen in den Medien durchzugeben.
»Sie ist einfach verschwunden«, sagte die Ehefrau. Die beiden waren im Alter von Erlendur, um die fünfzig, beide Geschäftsleute. Sie importierten Kinderausstattung, und das reichte offensichtlich aus, um auf ziemlich großem Fuß leben zu können. Die Neureichen. Das Alter war sanft mit ihnen umgesprungen. Erlendur hatte zwei
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