Nordermoor
Taschentuch zur Nase.
Das Handy von Erlendur klingelte in der Manteltasche. Nachdem er es endlich hervorgekramt hatte, verhedderte es sich in der Taschenöffnung, und statt es vorsichtig herauszuziehen, wie es am einfachsten gewesen wäre, riss Erlendur mit aller Kraft daran, bis die Manteltasche nachgab. Die Hand mit dem Handy schlug gegen den Message-Tree, der prompt zu Boden ging. Erlendur blickte die Eheleute vorwurfsvoll an und drückte auf die Empfangstaste.
»Kommst du mit uns nach Nordermoor?«, fragte Sigurður Óli ohne Umschweife. »Die Wohnung muss genauer inspiziert werden.«
»Bist du im Büro?«, fragte Erlendur. Er war etwas zur Seite getreten.
»Ich warte auf dich«, sagte Sigurður Óli. »Wo zum Kuckuck steckst du eigentlich?«
Erlendur stellte das Handy ab.
»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er zu den Eheleuten. »Ich glaube nicht, dass irgendeine Gefahr besteht. Das Mädchen hat den Mut verloren und rappelt sich jetzt bei irgendwelchen Freunden wieder hoch. Macht euch nicht zu viele Sorgen. Sie meldet sich früher oder später.«
Die Eheleute beugten sich über die Zettelchen, die auf den Boden gefallen waren, und sammelten sie auf. Er sah, dass sie einige übersehen hatten, die unter einem Stuhl lagen, und bückte sich danach. Sie waren aus rotem Karton. Erlendur las die Botschaften, die darauf standen, und blickte auf die Eheleute »Habt ihr diesen hier gesehen?«, fragte er und reichte ihnen einen Zettel.
Der Mann las den Zettel und schaute verwundert auf. Er gab seiner Frau den Zettel. Sie las ihn wieder und wieder, schien aber überhaupt nichts zu verstehen. Erlendur streckte seine Hand nach dem Zettel aus und las ihn noch einmal. Die Botschaft war nicht unterzeichnet.
»Ist das die Schrift eurer Tochter?«, fragte er.
»Ich glaube, ja«, sagte die Mutter.
Erlendur drehte den Zettel zwischen den Fingern und las die Message noch einmal: Er ist grauenvoll
– was habe ich getan?
Kapitel 5
» W o bist du gewesen?«, fragte Sigurður Óli, als Erlendur wieder ins Büro kam, aber Erlendur ging nicht darauf ein.
»Hat Eva Lind versucht, mich zu erreichen?«, fragte er.
Sigurður Óli verneinte. Er wusste, was mit der Tochter von Erlendur los war, aber keiner von beiden hatte es jemals angesprochen. Privatangelegenheiten verirrten sich selten in ihre Gespräche.
»Gibt’s was Neues in Bezug auf Holberg?«, fragte Erlendur und ging schnurstracks zu seinem Büro, gefolgt von Sigurður Óli, der die Tür hinter sich zumac hte. Morde waren rar in Reykjavík, und die wenigen, die verübt wurden, erregten enormes Aufsehen. Bei der Kriminalpolizei galt der Grundsatz, nur dann Tatsachen über den Stand der Ermittlung an die Medien weiterzugeben, wenn es unbedingt erforderlich war, und das traf nicht auf diesen Fall zu.
»Wir wissen ein bisschen mehr über ihn«, sagte Sigurður Óli und öffnete die Mappe, die er in der Hand hielt. »Er ist in Sauðárkrókur geboren, war neunundsechzig Jahre alt. Hat lange Jahre als LKW-Fahrer bei der Firma Islandspedition gearbeitet. Und sporadisch arbeitete er da immer noch.«
Sigurður Óli machte eine Pause.
»Müssen wir nicht mit seinen Kollegen reden?«, sagte er und glättete seine Krawatte. Er trug einen neuen Anzug. Er war groß gewachsen, sah gut aus – und hatte ein amerikanisches Diplom in Kriminologie. Er war alles, was Erlendur nicht war, modern und durchorganisiert.
»Müssen wir nicht ein Profil von dem Mann erstellen?«, fuhr er fort. »Ihn etwas näher ausleuchten?«
»Profil?«, sagte Erlendur. »Was meinst du damit? Eine Seitenansicht? Willst du eine Seitenansicht von ihm anfertigen?«
»Informationen über ihn sammeln, nun tu doch nicht so!«
»Was sagen die anderen denn dazu?«, fragte Erlendur und fummelte an einem Knopf seiner Jacke, der ihm schließlich in die Hand fiel. Erlendur war kräftig gebaut und hatte einen rotbraunen Haarschopf. Er war einer der erfahrensten Mitarbeiter der Kripo und konnte meistens schalten und walten, wie er wollte. Sowohl Vorgesetzte als auch andere Mitarbeiter hatten ihre Versuche, ihm dreinzureden, schon lange aufgegeben. Das hatte sich im Laufe der Jahre so entwickelt. Erlendur hatte nichts dagegen.
»Wahrscheinlich ein Verrückter«, sagte Sigurður Óli. »Die Suche konzentriert sich auf den grünen Militärparka. Ein Junge, der Geld aus Holberg rausholen wollte, aber dann in Panik geriet.«
»Was ist mit Holbergs Familie? Hatte er Familie?«
»Keine Familie. Allerdings haben
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