Nordermoor
»Das ist nicht nötig. Ich bin nur ein bisschen durcheinander vom Schlafen. Das geht schon in Ordnung. Setz dich, meine Liebe. Das kommt schon alles wieder ins Lot.«
»Was hast du Albert gesagt?«, fragte Erlendur. »Hast du ihm von der Vergewaltigung erzählt?«
»Das wollte ich eigentlich schon die ganzen Jahre tun, aber ich konnte es nie über mich bringen. Ich habe nie jemandem davon erzählt. Ich habe versucht, das alles zu verdrängen, als ob es nie geschehen sei. Das war oft schwierig, aber irgendwie ist es doch gegangen. Dann seid ihr gekommen, und ich konnte nicht anders, ich musste es loswerden. Mir ging es danach irgendwie besser. Es war, als hättet ihr eine schwere Last von mir genommen, ich wusste jetzt, dass ich mir das von der Seele reden konnte und dass es das einzig Richtige war. Sogar nach all dieser Zeit.«
Katrín verstummte.
»War er wütend auf dich, weil du ihm nicht von der Vergewaltigung erzählt hast?«, fragte Erlendur.
»Ja.«
»Hat er deinen Standpunkt nicht verstanden?«, fragte Elinborg.
»Er sagte, ich hätte es ihm damals gleich erzählen sollen. Das ist natürlich verständlich. Er sagte, er sei immer ehrlich zu mir gewesen und er hätte das nicht verdient gehabt.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Erlendur. »Ich hätte Albert doch etwas mehr Charakterstärke zugetraut. Ich hätte erwartet, dass er versuchen würde, dich zu trösten und aufzurichten und dir in dieser schwierigen Situation beizustehen, statt einfach abzuhauen.«
»Ich weiß«, sagte Katrín. »Vielleicht habe ich es ihm nicht richtig erzählt.«
»Richtig erzählt«, sagte Elinborg und verhehlte nicht, dass sie entrüstet war. »Wie kann man so etwas richtig erzählen?«
Katrín schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich schwöre es, ich weiß es nicht.«
»Hast du ihm die ganze Wahrheit gesagt?«, fragte Erlendur.
»Ich habe ihm das gesagt, was ich euch gesagt habe.«
»Und nichts mehr?«
»Nein«, sagte Katrín.
»Nur von der Vergewaltigung?«
»Nur«, wiederholte Katrín. »Nur! Als ob das nicht genug wäre. Als ob das nicht genug wäre, dass er hört, dass ich vergewaltigt wurde und er nie davon erfahren hat. Ist das nicht genug?«
Sie schwiegen.
»Hast du ihm nicht von eurem jüngsten Sohn erzählt?«, fragte Erlendur schließlich.
Katrín schaute ihn an, und auf einmal sprühten ihre Augen Funken.
»Wieso von unserem jüngsten Sohn?«, fragte sie, und die Worte wollten ihr kaum über die Lippen.
»Du hast ihn Einar getauft«, sagte Erlendur, der einen Blick auf die Informationen geworfen hatte, die Elinborg tags zuvor über die Familie gesammelt hatte.
»Und was ist mit Einar?«
Erlendur schaute sie an.
»Er ist dein Sohn«, sagte Erlendur. »Aber er ist nicht der Sohn seines Vaters.«
»Wovon sprichst du eigentlich? Nicht der Sohn seines Vaters. Natürlich ist er der Sohn seines Vaters! Wer ist nicht der Sohn seines Vaters?«
»Entschuldige, ich habe es nicht präzise genug ausgedrückt. Er ist nicht der Sohn des Vaters, den er für den seinen hielt«, sagte Erlendur ruhig. »Er ist der Sohn des Mannes, der dich vergewaltigt hat. Holbergs Sohn. Has t d u deinem Mann das gesagt? Ist er deswegen abgehauen?«
Katrín schwieg.
»Hast du ihm die ganze Wahrheit gesagt?«
Katrín schaute auf Erlendur. Er hatte den Eindruck, als sträubte sie sich immer noch. So verging eine Weile, und dann sah er, dass ihre Lippen nachgaben. Die Schultern sackten herunter, sie schloss die Augen, der Körper sank im Sofa zusammen, und sie brach in Tränen aus. Elinborg warf Erlendur einen durchdringenden Blick zu, der aber schaute Katrín an und ließ ihr Zeit, sich zu fangen.
»Hast du ihm von Einar erzählt?«, fragte er schließlich, als ihm schien, dass sie sich wieder gefangen hatte.
»Er hat es nicht geglaubt«, sagte sie.
»Dass Einar nicht sein Sohn ist?«, fragte Erlendur.
»Zwischen Albert und Einar besteht ein besonders enges Verhältnis, und so ist es immer gewesen. Von Geburt an. Albert liebt seine beiden anderen Söhne natürlich auch, aber Einar ganz besonders. Von Anfang an. Er ist das jüngste Kind, und Albert hat ihn immer verwöhnt.«
Katrín hielt inne.
»Vielleicht war es deswegen, dass ich niemals etwas gesagt habe. Ich wusste, dass Albert das nicht ertragen könnte. Sagte keinen Ton. Und das ging ganz gut. Holberg hatte eine Wunde hinterlassen, und weswegen sollte sie nicht in Ruhe heilen? Warum sollte er unsere gemeinsame Zukunft zerstören können? Das war meine
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