Norderney-Bunker
Obduktionsergebnis von Karin Mayer-Lübbecke las. Demnach stand fest, dass die Redakteurin auf der Plattform des Leuchtturms ermordet worden war. Und es gab keinen Zweifel: Die Tatwaffe, bei der es sich mit größter Wahrscheinlichkeit und ein langstieliges Messer handelte, war durch die Kleidung in den Bauch eingedrungen und hatte die Aorta abdominalis so schwer verletzt, dass die Frau innerhalb weniger Minuten innerlich verblutete. Außerdem stellten die Pathologen eine Schnittwunde am Hals sowie mehrere Hämatome und Hautabschürfungen an den Unterarmen fest.
„Auch hier ist die Aden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aus dem Rennen, verdammt“, entfuhr es Faust, als er den Bericht zu Ende gelesen hatte.
„Ja, die schwarze Witwe scheint tatsächlich eine weiße Weste zu haben“, antwortete Visser.
„Schlechtes Wortspiel“, entgegnete Faust. Dann hüpfte er vom Schreibtisch, nahm sich eine neue Zigarette und griff zum Telefonhörer.
Die Bürgerwehr
Alle Versuche des Polizeipräsidenten, des Vorsitzenden des Innenausschusses in Hannover, der Landtagsabgeordneten, der Bundestagsabgeordneten, des Landrats in Aurich, des Präsidenten des Deutschen Tourismusverbands und des Bundesvorsitzenden des Deutschen Hotel-und Gaststättenverbandes, den Beschluss zur Gründung der Bürgerwehr rückgängig zu machen, liefen ins Leere.
„Herr Polizeipräsident, ich bitte Sie um Verständnis, aber ich kann und will den Beschluss des Rates nicht kippen. Es geht hier um die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger der Insel Norderney. Das Vertrauen in die Polizei ist erschüttert. Ich kann es nicht ändern. Wir müssen das Heft des Handelns ein Stück weit selbst in die Hand nehmen. Wir befinden uns hier momentan in einer emotionalen Ausnahmesituation, wie sie die Insel noch nicht erlebt hat“, begründete der Bürgermeister die Initiative gegenüber dem Polizeichef.
Gleich am Abend nach der Ratssitzung trafen sich 16 Norderneyer im Vereinsheim des Kleingartenvereins Schlickdreieck . Sie teilten sich in vier Gruppen auf. Zwei Männer führten Schäferhunde mit sich. Ziel war es, um die Nordhelmsiedlung herum Wachstützpunkte zu bilden, von denen aus Patrouillen durchgeführt werden sollten. Die einzelnen Stützpunkte befanden sich am nördlichen Ende der Lippestraße, am Karl-Rieger-Weg/Höhe Bahnhof Stelldichein , am westlichen Ende der Emsstraße und am Remmer-Harms-Eck .
Als die Männer der Bürgerwehr zu Beginn der Dämmerung durch die Straßen liefen, winkten und nickten ihnen die Anwohner freundlich und anerkennend zu. Einige baten sie ins Haus und luden sie auf einen Kaffee oder einen Schnaps ein. Mit den an den Basisstützpunkten verbliebenen Kameraden blieben sie per Funk in ständigem Kontakt. Wie die Akteure der Bürgerwehr an die Geräte gekommen waren, sollte für immer ein Geheimnis bleiben. Die Feuerwehr jedenfalls stritt jede Unterstützung kategorisch ab. Auch die Frage, ob die Reederei für eine derart flüssige Kommunikation gesorgt haben könnte, wurde nie beantwortet.
Lübbert und Winnetou hatten es am Vorabend tatsächlich ordentlich krachen lassen. Bis in den frühen Morgen feierten sie ihr Bunkerfest und verdrängten alles, was die bevorstehende Verhaftung nach sich ziehen würde. Stattdessen ließen sie ihre Lebensläufe scheibchenweise Revue passieren und kamen dabei zu dem schlichten Ergebnis, dass das Leben manchmal ganz schön ungerecht sein kann.
„Etwas Anarchismus würde unserer Gesellschaft gut tun“, stellte Winnetou fest. Die Leute in Deutschland seien viel zu stromlinienförmig geworden. Jeder achte nur auf sich selbst, statt im Kollektiv etwas auf die Beine zu stellen.
„Konformismus ist ein Geschwür, das jede Kreativität zerfrisst und damit den Staat von innen aushöhlt und zerstört“, befand Winnetou nach dem fünften Champagner.
Auch Lübbert haderte nicht nur mit seinem persönlichen Schicksal, sondern auch mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Existenzgründer: „Die Großen machen die Kleinen kaputt. Globalisierung ist scheiße“, urteilte er kurz und knapp.
* * *
Nun war es mittlerweile zwanzig Uhr am anderen Abend, und beide hatten den Schlaf des Gerechten geschlafen. Als sie wach wurden, genügte ein Blick um zu wissen, was nun zu tun sei. Essensreste, leere Flaschen, Zigarettenkippen und Zigarrenstummel packten sie in Plastiktüten und stellten sie in die Ecke neben die Schubkarre. Die Stühle stellten sie wieder zurück zu den anderen, und
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