Norderney-Bunker
finden, bevor sie uns kriegen. Dann würden sie uns unsere Version glauben.“
Winnetou zog die Nase hoch und rülpste. Dann nahm er die Weinflasche zur Hand und schüttete Lübbert und sich selbst nach.
„Ich mache dir jetzt einen Vorschlag zur Güte“, sagte er dann.
„Und der lautet?“
„Wir räumen jetzt hier die Bude auf, stellen den Abwasch wie gehabt fein in die Spülmaschine und wischen eben durchs Bad. Dann packen wir uns da drüben die Einkaufstasche voll und laufen zum Bunker.“
„Und dann?“
„Dort lassen wir dann unsere Abschiedsfete steigen. Wir lassen es noch mal so richtig krachen. Wein, Champagner, Kaviar und dicke Havannas.“
„Fehlen nur noch die Frauen“, fügte Lübbert hinzu.
Winnetou lachte. „Wir können ja bei der Soko mal fragen, ob sie uns zwei hübsche Kolleginnen rüberschicken.“
Hoffnungsschimmer
Im Büro der Insel-Soko glühten am folgenden Morgen die Drähte. Die Berichte in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen hatten bundesweit für großes Aufsehen gesorgt. Auch für die Boulevardblätter lieferten die Ereignisse auf Norderney in diesen Tagen perfekte Schlagzeilen. „Winnetou hat das Kriegsbeil auf Norderney ausgegraben“, schrieb der Kölner Express , und die Bild titelte: „Krieg an der Nordsee: Häuptling trifft Neptun“. Im Mittelpunkt des Medieninteresses stand demnach der obdachlose Straßenmusikant mit den langen schwarzen Haaren.
Inzwischen waren 26 Hinweise auf den möglichen Aufenthaltsort von Paul-Karl May eingegangen. Unter anderem wurde behauptet, er halte sich am Stuttgarter Hauptbahnhof auf. Außerdem wollte ihn eine alte Dame in der Nähe von Bad Segeberg gesehen haben. Auch direkt von der Insel riefen Leute an. Am Parkplatz Ostheller glaubten Urlauber aus Witten-Herdecke zwei Männer, auf die die Beschreibung passte, hinter einer Wanderdüne gesehen zu haben. Ein Rentner aus der Georgstraße, der gegen Mitternacht vor dem Zubettgehen noch einmal aus dem Fenster geschaut hatte, sprach von einer auffälligen Beobachtung auf dem Außengelände des Badehauses. Dort sollte, behauptete er steif und fest, ein Mann mit langen schwarzen Haaren in der Erdsauna verschwunden sein.
Gent Visser und Carlo Faust waren an diesem Morgen gleichzeitig im Soko-Büro erschienen. Visser hatte seine Jacke noch nicht abgelegt, da läutete sein Telefon. Die Handy-Nummer, die im Display aufleuchtete, kannte er nicht. Schon die ersten beiden Sätze des Anrufers ließen ihn aufhorchen. „Ich möchte mich mit Ihnen treffen. Ich habe Ihnen was zu sagen, aber nicht hier im Hotel.“
Faust merkte am angespannten Gesichtsausdruck seines Kollegen, dass der Anruf von besonderer Qualität sein musste. Er setzte sich leise auf den Stuhl und blickte Visser an. Nach wenigen Sekunden legte der nach einem kurzen „Okay“ den Hörer auf. Faust schaute ihn mit großen Augen fragend an.
„Das war Stiegel. Paul Stiegel. Der Rezeptionist aus dem Hotel. Er sagt, er hätte uns was mitzuteilen, etwas sehr Wichtiges.“
„Und wie seid ihr verblieben?“
„Er möchte nicht hierher kommen, und im Hotel geht es auch nicht. Ich habe zugesagt, dass wir uns mit ihm in einer Viertelstunde auf der Terrasse der Milchbar treffen.“
Man sah Stiegel die Aufregung zwar an: Er zuckte nervös mit den Schultern und zog die Augenbrauen immer wieder hoch. Gleichwohl vermittelte er einen entschlossenen Eindruck; so, als hätte er sich das, was er nun tun würde, genau überlegt.
„Haben Sie sich wegen gestern Abend zu korrigieren oder gibt es irgendetwas Neues?“, kam Faust gleich zur Sache.
Sie hatten an einem der Tische Platz genommen, die etwas geschützter als die anderen vor dem Glaseingang des Strandlokals platziert waren. Die Lounge-Musik von Blank & Jones setzte das i-Tüpfelchen auf das feine Ambiente, als Stiegel den Soko-Chef erstaunt anschaute. „Also, das will ich Ihnen sagen. Ich möchte von Ihnen ernst genommen werden. Wenn ich Ihnen was zu sagen habe, dann habe ich Ihnen was zu sagen. Und gestern Abend war dies nicht so.“
„Okay“, sagte Faust. Er warf Stiegel einen besänftigenden Blick zu und hob die Hände zum Zeichen, dass ihm der Einstieg in das Gespräch leid tue. Dann legte Stiegel los.
„Als Sie gestern Abend das Hotel verlassen haben, habe ich eine Beobachtung gemacht, die mir keine Ruhe lässt. Ich hatte die Tür gerade eben abgeschlossen und in der Rezeption alles klargemacht. Es waren schließlich keine Anreisen mehr zu erwarten. Dann ging ich
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